Zweites Buch
DER UNTERRICHT
Woldemar von Uxkull (1937)
DAS ERSTE BILD
Der Magier. Osiris. Das absolute Aktivum.
Am folgenden Tage kurz vor Sonnenaufgang kam der junge Priester und führte den Jüngling in die ihm so gut bekannte Halle mit den 22 Bildern. Bald erschien auch der Oberpriester, der nach wohlwollender, ernster Begrüßung also sprach: „Diese Bilder enthalten in Symbolen unser gesamtes Wissen. Was die Gottheit offenbaren wollte, was wir Menschen fassen können, ist in ihnen enthalten. Diese Bilder, die wir das Buch Thoth nennen, und die die Zusammenfassung der 42 Bücher des Thoth sind, des Gottes der Weisheit, reden zu uns vom Wesen der Gottheit, der wir dienen, vom Menschen und seinen Wegen, von der Welt und ihrem Werdegang. Sie geben uns auch die ewigen Gesetze, auf denen jede Kunst, das ganze Weltall und jede Wissenschaft aufgebaut ist. Sie enthalten viel mehr als du heute ahnen kannst. Ich will dir aber den Schlüssel geben, um dies Buch lesen zu können. Du wirst auch in Zukunft viele Stunden hier weilen und Licht und Wissen aus diesen Bildern schöpfen. Ich werde dir auch ein andermal mehr über die geheimen Gesetze und die Wechselbeziehungen sagen, die zwischen den einzelnen Bildern bestehen, heute will ich dir nur einiges zeigen, was du für dich aus diesem wunderbaren Buche lesen kannst. Deine ganze Entwicklung, durch alle Leben hindurch, durch unzählbare Ewigkeiten, die du in der eigentlichen Heimat der Geister verbringst, findest du hier, denn aus dem Schoße der Gottheit kamst du und dorthin gehst du zurück.
Der Gedanke ist der Anfang aller Dinge, aus den Gedanken der Gottheit entstand alles. Siehe das erste Bild. Es heißt Osiris. Es stellt den höchsten Gott dar, den Unendlichen, Ewigen, Unaussprechlichen, nie ganz Begriffenen. Es ist nicht ein Bildnis des Osiris, es offenbart aber in Symbolen sein Wesen. Du siehst einen Mann im Gewande des Magiers, des die ewigen Gesetze Kennenden und sie Beherrschenden, des Könnenden.
Betrachte die Haltung der Hände: er gebietet im Himmel und er verwirklicht auf Erden. So ist er ein Inbegriff der großen Urgottheit, des Schöpfers, aus dem alles hervorgegangen ist und zu dem alles zurückkehrt, dessen Hand überall hinreicht, dessen Auge alles sieht, dessen Ohr alles hört, der allmächtig und überall ist. Er ist auch der große Gesetzgeber. In seiner Weisheit hat er die, die Schöpfung beherrschenden und erhakenden Gesetze bestimmt und gegeben. Geister, Menschen, Elemente, Naturkräfte, alles Lebende und alles Gestorbene sind ihm untertan. Vor ihm auf dem Tische sind vier Symbole, ein Stab, eine Schale, ein Kreuz oder Schwert und eine Münze. Sie stellen vieles dar. Heute sage ich dir nur, dass sie ein Sinnbild des menschlichen Körpers, der menschlichen Gesellschaft sind. Im Stabe siehst du den die Gedanken hervorbringenden Kopf; die Schale stellt die erhaltende, atmende Brust dar, das Schwert, das die Geschicke der Staaten verändert, weist dich auf den Magen, der die empfangene Nahrung umgestaltet und die Münze deutet auf die Geschlechtsteile, aus denen eine andere Generation hervorgeht. Im staatlichen Organismus hingegen stellt der Stab die geistig Zeugenden, die Dichter, Künstler, Erfinder dar. In der Schale sehen wir die Erhaltenden, die Richter, Gelehrten und Sammler, im Schwerte die Umgestaltenden, die Krieger, durch die das Leben der Völker andere Formen empfängt, in der Münze die Zeugenden, Gebärenden, das niedere Volk, das viele Kinder hat und aus dem sich die anderen Stände ergänzen.
Osiris ist die große Eins, von der die unendlichen Zahlenreihen alle abstammen, er selbst aber stammt von Niemandem ab. Aus ihm bist du. Dein Geist, das Innerste deiner Persönlichkeit ist ein Funken des Urfeuers, ein Tropfen aus diesem unendlichen Meer: Und es war sein Wille und Wohlgefallen, dass du den Weg durch die Leben, die große Kurve hinab und hinauf wandern solltest, bis zurück zu ihm der große Kreis, die Schlange, die sich in den Schwanz beißt.
Dein Geist ist also göttlichen Ursprungs, ist Gott. Er hat alle Eigenschaften der Gottheit, wie der Tropfen alle Eigenschaften der großen Wassermenge hat, die den Erdkreis umspült, aber: Dein Geist schläft in dir. Er soll und wird jedoch zur Herrschaft kommen. Nicht der Körper mit seinen Bedürfnissen, nicht die Seele mit ihren Wünschen und Begierden soll in dir ausschlaggebend sein, sondern das Göttliche in dir entwickelt dich zum Gott. Denn es gibt viele Götter. Gott gibt es nur einen, den Schöpfer und Erhalter, aber seine Kinder teilen seine Natur, sein Wesen. Das sind die Bewussten.
DAS ZWEITE BILD
Die Priesterin. Isis. Das absolute Passivum.
Den zweiten Tag sprach der Oberpriester also: „Im ersten Bild hast du deinen Ursprung gesehen und dein Ziel, das, was du werden sollst. Die Fragen: Woher kommen wir, wohin gehen wir, hat dir das erste Bild im großen Umriss, in der Hauptsache beantwortet. Heute siehst du das zweite Bild: Isis, die göttliche Mutter.
Die Eins hat sich gespalten und es ist ein Zweites entstanden. Zum Männlichen hat sich das Weibliche gefügt oder aus dem Männlichen ist das Weibliche ausgeschieden worden. Das Bild heißt Priesterin. Es zeigt dir, was der erste Schritt auf dem Wege ist, den du gestern betreten hast.
Du siehst eine königliche Frau auf einem Sessel vor einem Vorhang sitzen, zwei Schlüssel in der Linken, eine Buchrolle in der Rechten. Sie sagt dir: Willst du wissen, was hinter dem Vorhang ist, willst du die Reiche, die eben noch deinen Augen unsichtbar sind, kennen lernen und willst du die in dir schlummernden Fähigkeiten entwickeln, so musst du zuerst in den Büchern lesen, vor allem im Buch Thoth. Dann werde ich dir, wenn die Zeit gekommen sein wird, mit den beiden Schlüsseln, die ich in der Hand halte, die Tore öffnen zu den beiden Reichen, und du wirst schon vor deinem Tode eingehen können in Orte der Qualen und Strafe und in Orte seligen Herrschens und ewiger Freude.
Du wirst das große Gesetz vom Säen und Ernten walten sehen, denn unser aller Tun ist Säen und all unser Erleben Ernten. Du wirst dich davon selber überzeugen, dass alles Sichtbare nur Ausdruck von Unsichtbarem ist und seinen Ursprung im Unsichtbaren hat. So wie dieser Tempel zuerst in der schöpferischen Phantasie des Baumeisters bestanden hat und dann gebaut wurde, so hat auch das Weltall zuerst im Geiste des Schöpfers bestanden, ehe er es durch den Hauch seines Mundes zu Stoff machte.
Gehe also hin und lerne. Nimm auf in dir den Inhalt heiliger Bücher und gib neuen, weiten Gedanken in dir Raum“.
DAS DRITTE BILD
Die Königin. Der Geist. Das absolute Neutrum.
Am dritten Tage sprach der Oberpriester vor dem dritten Bilde also: „Dieses Bild, mein Sohn, stellt den Gott Horus dar, den Adler, den Geist. Du siehst hier nicht die dem Volke geläufige Darstellung des Mannes mit dem Sperberkopf. Du siehst sein Wesen in Symbolen ausgedrückt. Horus wird der Sohn des Osiris und der Isis genannt. Dieses Bild heißt auch die Königin. Sie herrscht. Du siehst, sie hat ein Zepter in der Hand und eine sternengeschmückte Krone auf dem Haupt. Zu ihren Füßen blüht die Wiese in reichstem Frühlingsschmuck auf. Sie herrscht auf Erden, die Blumen weisen darauf hin. Sie beherrscht auch die Himmelsräume, der Adler und die Sterne an ihrer Krone deuten es an.
Die Königin aber, die das All beherrscht, ist die Natur, die alles durchdringende Lebenskraft, der Geist. Aus den Gedanken des Urwesens entstand das All, wie aus unseren Gedanken die hörbaren Worte, die sichtbaren Taten hervorgehen. Im Gedanken aber herrscht derselbe Geist, wie in den Worten und Taten. Da hast Du das göttliche Dreieck: Osiris – Gedanke, Isis – Wort und Horus – Geist.
Der aus dem Schoße der Gottheit ausgehende Geist erzeugt und erhält nach ewigen Gesetzen das Leben. Von ihm werde erfüllt, mit ihm sei im Einklang, ihm gehorche, dann wird er dich emportragen auf Adlerflügeln, deinem Ziel, der Vollkommenheit zu.
Siehe den Adler auf dem Felsen neben der Königin. Er ist eine unerfüllte Verheißung. Noch ruht er, aber er ist bereit, die mächtigen Schwingen auszubreiten und mit dir, wenn du dich ihm anvertraust, hinauf zu schweben, der Sonne zu; seine Losung ist empor, aufwärts und nicht vorwärts, wie von vielen angenommen wird, deren vorwärts faktisch ein rückwärts ist. Denn aufwärts entwickelt sich das All in gewaltiger, vielfach sich windender Spirale und alles, was dem Gesetze aufwärts widerstrebt, wird durch diese Tatsache selber schon vernichtet. Mein Sohn, das Weltall entsteht aus zwei gewaltigen Strömen, die sich berühren, sich durchkreuzen und vermählen, ohne sich zu vermischen, ohne je ihre Eigenart zu verlieren, ohne ihr Ziel aus dem Auge zu lassen. Sie heißen Strom der Geister und Welle des Lebens. Der Strom der Geister entsprüht dem Herzen der Gottheit; die einzelnen Funken, die Menschengeister, haben in die Materie hinabzusinken, sich im Stoff zu verkörpern, um ihn zu besiegen und sich selber durch Kampf zu entwickeln. Im Reich der Toten reinigen sie sich von Befleckungen und steigen geläutert ins Reich des Lebens empor. Dort bleiben sie, bis es sie wieder hinabzieht, um durch eine Verkörperung im Stoff neue Erfahrungen, größere Reife zu gewinnen und durch Überwinden von Schwierigkeiten neue Kräfte zu erlangen. So steigen die Geister auf und ab, aber immer höher empor, in göttlicher Spirallinie. Je weiter sie kommen, umso mehr leuchten sie in Liebe, strahlen sie Wärme aus, umso mehr verbrennt alles Selbstsüchtige in ihnen, bis sie endlich oben angelangt, in Liebe lichterloh brennend, sich wieder mit dem großen Urfeuer vereinigen, der große Sprung.
Die Geister werden aber durch das Herabsteigen in den Stoff nicht nur selber in ihrer Entwicklung gefördert, sondern sie üben auch einen veredelnden, vergeistigenden Einfluss auf den Stoff, mit dem sie in Berührung kommen, und auf die stofflichen Gebilde aus, von denen sie zeitweilig aufgenommen werden. Diese stofflichen Gebilde aber sind die Erzeugnisse oder besser die Erscheinungsformen der großen Lebenswelle, die sich ebenfalls zu immer höheren Lebensformen, entwickeln.
Die Lebenswelle entspringt gleichfalls dem Schoße der Gottheit, sie durchflutet den Raum und die Zeit. Aus Äther und Luft, aus den Wassern und ihren Niederschlägen, aus den Myriaden unzählbarer, unsichtbarer kleiner Ureinheiten bildet sie im Laufe vieler, vieler Jahrtausende durch verschiedene Zusammensetzungen das Reich des Gesteines und der Metalle. Langsam arbeitet sich das Leben durch diesen schweren Stoff hindurch, es gestaltet im Schoß der Erde die Kristalle und lässt an der Oberfläche das Gestein verwittern. Auf verwittertem Gestein wachsen Moose, zu denen sich Farnkräuter gesellen. Immer mehr Gestein verwittert und eine immer reicher werdende Pflanzenwelt kann sich entwickeln. Ebenso entwickelt sich das tierische Leben von niedrigeren Formen zu immer höheren.
Die Welle des Lebens durchströmt dann das Reich der Pflanzen und Tiere, der Menschen und Geister, überall neue Formen schaffend, immer emporsteigend, bis sie ebenfalls in den Schoß der Gottheit zurückkehrt. Diese zwei Spiralen, der Strom der Geister und die Welle des Lebens, die nebeneinanderlaufen, sich immer wieder berührend, bilden die Evolution des Alls.
Es gibt aber, mein Sohn, einen kürzeren, steileren Weg, als diesen natürlichen, um rascher zum Gipfel zu gelangen, und das ist der Weg der Einweihung.
Du kannst den Bergkegel auf allmählich ansteigender Straße erreichen, du kannst aber auch auf einem steilen, schmalen, äußerst beschwerlichen Wege rascher hinaufklettern.
Es gibt Geister, die dazu getrieben werden, den Pfad der Einweihung zu betreten. Es sind Auserwählte, die rascher zum Ziele kommen wollen, um den anderen dann vorwärts helfen zu können. Sie haben ein an Leiden, Beschwerden, aber auch an Erkenntnis und Freude reicheres Leben. Sie durchleben in einem Leben den Inhalt mehrerer Leben. Sie wollen aber vorwärts, auch um diesen Preis. Das sind Getriebene, von Göttern Beeinflusste. Sie sind solche, die wissen möchten, die die Antwort suchen auf die Fragen, woher kommen und wohin gehen wir, die bereit sind, sich Prüfungen zu unterwerfen und die sie bestehen, wie du.
Sie reifen rascher heran, als die anderen und finden schon in diesem Leben, aber besonders nachher ihre Seligkeit, im Belehren, Helfen, Fördern, Dienen, Trösten, Heilen, Lieben. Dies ist dein Weg. Und nun gehe und danke dem großen Gott.“
DAS VIERTE BILD
Der Pharao. Gesetz. Wille.
Am vierten Tage sprach der Oberpriester: „Du stehst, mein Sohn, heute vor dem Bild, das „Der Pharao“ heißt. Hast du im ersten Bild den schaffenden, den Elementen gebietenden Gott gesehen, so siehst du auf dem vierten Bilde den durch Gesetze die Schöpfung, den Kubus, beherrschenden Gott. Gesetze beherrschen das Weltall. Den Gesetzen kann sich niemand entziehen. Die beiden Kronen auf dem Haupt des Pharao, die beiden Zepter in seinen Händen, deuten darauf, dass er durch Gesetze sowohl sichtbare, wie uns jetzt noch unsichtbare Welten beherrscht.
Das Weltall, das er beherrscht, ist durch den Kubus, den Würfel dargestellt, denn das Vierergesetz ist das Grundgesetz der Schöpfung; auf dem Vierergesetze baut sich alles auf. Die Gottheit ist dreieinig: Osiris, Isis und Horus.
Der ewige Uranfang, der sich spaltet, oder der tätige, das Aktivum, tut einen Teil von sich hinaus, das Passivum empfängt den hinausgetanen oder den leidenden Teil. Dadurch entsteht ein Zweites und die Beziehungen zwischen den beiden sind das Dritte, das entsteht, das Resultat. Darum wird die Gottheit immer durch ein Dreieck dargestellt.
Wenn nun aber diese in geistigen Höhen lebende Gottheit ein Weltall mit Tausenden von Sonnensystemen und Myriaden von Sternen schaffen will, so ist diese sichtbare Welt ein Viertes. Fügt man nun dem sich öffnenden Dreieck eine Linie hinzu, so entsteht ein Viereck. Darum wird die Welt, der Kosmos durch ein Viereck bezeichnet. Und in der Tat, ein geheimnisvolles Viergesetz scheint überall zu herrschen. Vier sind die Richtungen der Windrose, Norden, Süden, Ost und West, aus vier Elementen besteht das Weltall: Vier sind die Jahres- und Tageszeiten, Vier sind die Stufen des Menschen von der Wiege bis zum Grabe: Kind, Jüngling, Mann, Greis. Und du selbst, mein Sohn, bestehst, wenn du dich recht erkennst, auch aus vier Teilen, Körper, Leben, Geist und Ich. Du hast den stofflichen Körper, dann das für den Seher leise leuchtende Leben, das den stofflichen Körper durchdringt und umstrahlt. Diese beiden lösen sich nach dem Sterben in die Ureinheiten auf, aus denen sie bestanden. Der Tod ist nämlich nur das Auflösen der Bande, die die vier Teile, aus denen wir bestehen, zusammenhalten. Dein geistiger Leib, der dritte Teil, aus sehr feinem Stoffe, der die Ähnlichkeit seines stofflichen Körpers an sich trägt, verlässt im Tode die sichtbare Hülle mit dem Ich, dem göttlichen Funken, deinem vierten Teile, und geht durch das Reich der Schatten und des Todes ins Reich des Lichtes und Lebens ein. So ist auch in dem, was unsere Zusammensetzung anbetrifft, die Zahl Vier vorherrschend.
Und zum Schluss betrachte die Stellung des Pharao. Auch in ihr findest du die große Wahrheit symbolisch ausgedrückt: Die Gottheit beherrscht ihre Schöpfung.
Siehe die Stellung der Arme. Bilden sie nicht mit dem Kopfe ein Dreieck? Und die Füße? Sie kreuzen sich doch. Sie bilden ein Viereck. Du siehst also ein Dreieck über einem Viereck. Und das lesen wir so: Die Gottheit beherrscht das Weltall.
Wenn du das Weltall betrachtest und etwas vom Wesen der Gottheit erkennen willst, so musst du zuerst die Gesetze kennen lernen, mit denen die Gottheit das Weltall beherrscht. Die Gesetze der Gottheit sind das erste, was dem Suchenden auf dem Wege zur Wahrheit entgegentritt. Und nun gehe hin in Frieden und lasse diese Wahrheiten in dir nachklingen.
DAS FÜNFTE BILD
Der Hohepriester. Autorität. Verstand.
Am fünften Tage sprach der Oberpriester also: „Mein Sohn, du stehst heute vor dem Bild, das meinen Namen trägt. Es heißt der Hohepriester. Es bedeutet Glaube, Autorität, mündlicher Unterricht, geflüsterte Mitteilung. Du siehst den Hohepriester vor dem Vorhang sitzen, wie die Priesterin auf dem zweiten Bilde. Dies sagt dir, dass zwischen beiden Bildern ein innerer Zusammenhang besteht. Und dem ist auch so. Beide weisen dich auf die Notwendigkeit hin, Unterricht zu empfangen. Nur beachte den Unterschied: das Buch in der Hand der Priesterin riet dir, aus Büchern Weisheit und Belehrung zu sammeln. Hier auf dem Bild siehst du kein Buch in der Hand des Lehrenden, sondern die erhobene Hand des Hohepriesters zeigt nach oben, erklärend auf höhere Welten weisend. Es deutet also auf die Notwendigkeit mündlichen Unterrichts, und zwar auf den, den du in diesen Tagen von mir empfängst. Dieser Unterricht besteht nicht nur in der Erklärung der tiefsinnigen, weltumfassenden, heiligen Symbole, die du hier siehst, sondern auch in den Mitteilungen von geheimnisvollen, wirksamen Kenntnissen, die, den Vorhang der unsichtbaren Welt lüften.
Denn das Ziel des Unterrichts ist auf beiden Bildern, II und V, Hohepriesterin und Hohepriester, dasselbe; der Vorhang und die beiden Schlüssel sagen es uns: die Erschließung der beiden großen Reiche hinter dem Vorhang. Die Erschließung, die Kenntnis dieser Reiche ist aber geboten und nützlich, weil du durch Erkennen des großen Planes befähigt wirst, in Beziehungen zu höheren Wesen zu treten und an der Entwicklung des Weltalls fördernd teilzunehmen.
Es gibt nun Dinge, die nicht jederzeit jedermann gesagt werden können, sondern die nur zur richtigen Stunde den dazu Vorbereiteten mitgeteilt werden dürfen. Eine solche Stunde ist heute für dich gekommen. Ich werde dir nun ein Wort sagen, einen Namen dich lehren, dir einen Schlüssel geben, der den Zugang zu den unsichtbaren Welten öffnet.“
Der Oberpriester beugte sich zum Jüngling und flüsterte ihm einen fünfsilbigen Namen ins Ohr. „Hast du verstanden?“
„Jawohl!“
„Wiederhole mir das Wort; flüstere es mir ins Ohr.“
Der Jüngling tat es.
„Recht so, mein Sohn, vergiss das Wort nicht, aber sprich es nie leichtfertig aus, es würde fürchterliche Folgen für dich haben. Es ist der Anfang der Dinge, die du bis jetzt nicht kanntest. Heute Abend und die vier darauffolgenden Abende sollst du, nachdem du deine abendliche Meditation vollbracht, dich auf dein Lager legen und das Wort laut aussprechen, das ich dich soeben gelehrt. In diesem Worte sind göttliche Kräfte, es ruft den Geist herbei, der einem über uns stehenden Plan angehört und der von noch Höheren berufen ist, deine Entwicklung zu leiten. Im Laufe von fünf Nächten wird er sich nun dir offenbaren. Gedenke der leitenden Richtschnur: Wissen, Wollen, Wagen, Schweigen.
Es ist aber noch ein weiterer Unterschied zwischen den Bildern. Die Priesterin hat keine Schüler vor sich, die ihr zuhören, die mit erhobenen Händen um Mitteilung bitten. Schüler, Jünger sind solche, die lernen wollen, die sich zu Füßen eines Lehrenden niederlassen, aber ihre Motive sind verschieden. Hier setzt in leiser, nur durch die Kleidung angedeuteter Weise die Unterscheidung zwischen schwarzer und weißer Magie ein. Hier spaltet sich der Weg. Der Schüler in Weiß ist einer, der es ehrlich meint; er hält seine Rechte aufs Herz. Seine Absichten sind rein. Er will vorwärts kommen. Es treibt ihn zur Gottheit. Er will anbeten, erkennen. Er will in Gottes Weltenplan Einblick gewinnen, um ein Mitarbeiter der Gottheit zu werden; er will helfen, dienen, nützen.
Ganz anders der Jünger im schwarzen Mantel. Auch er will lernen, will wissen, können, aber seine Beweggründe sind unlauter. Er sucht Kenntnis und Macht aus eigennützigen Gründen. Die Gier nach Geld, die Lust der Sinne erfüllt sein Herz. Er will Wissen haben, können, um zu genießen. Er wird an seiner Selbstsucht zu Grunde gehen.
Du aber wandle auf dem Wege des Lichtes und der Liebe und meide den schlüpfrigen Pfad der Selbstsucht und Finsternis. Und nun gehe hin in Frieden und danke der Gottheit, die Dich auserwählt hat.“
Den ganzen Tag dachte der Jüngling an den kommenden Abend. Immer wieder sprach er in Gedanken das heilige fünf-silbige Wort aus.
Die Sonne sank. Der junge Priester meditierte auf seiner Matte. Es wollte nicht recht gelingen. Immer wieder gingen seine Gedanken zum geheimnisvollen Wort. Endlich war er mit seiner Meditation fertig. Er legte sich auf sein Lager. Er lag auf dem Rücken. Durch die Fensteröffnung schien die Sichel des abnehmenden Mondes.
Wissen, Wollen, Wagen.
Er sprach das Wort laut aus. Er lag einige Augenblicke da; harrend. Plötzlich überfiel ihn ein großer Schreck, ein ihn leiblich und geistig lähmendes Entsetzen. Er sah nichts, aber fühlte es, etwas Fürchterliches, für ihn Übernatürliches war da; in seiner Nähe. Es blieb einige Zeit, dann plötzlich, wie es gekommen war, war es fort.
Der junge Priester atmete tief auf, empfahl sich dem Schutze der Götter und schlief ein.
DAS SECHSTE BILD
Der Liebende. Liebe. Schönheit.
Am sechsten Tage sprach der Oberpriester also: „Auf dem sechsten Bild, welches Schönheit, Liebe heißt, siehst du einen Jüngling, der unentschieden zwischen zwei Frauen steht: er hat zu wählen. Es ist der Geist – Bild III der die Auserwählten vor die Wahl stellt.
Die Frau zu seiner Rechten bedeutet die Weisheit, die zu seiner Linken, nackt und mit Blumen im Haar, die Sinnlichkeit.
Er wird aber beobachtet, wir werden es immer. In den Wolken ist ein Engel, der den Pfeil seines Bogens auf die Stelle neben dem nackten Weibe richtet. Entscheidet sich der Jüngling für die vergänglichen Freuden der Sinne, so wird er von höheren Gewalten schmerzhaft gezüchtigt werden, zu seiner Besserung, damit er sich besinne und umkehre.
Du mein Sohn hast dich am Tage, da du die Prüfungen bestandest, für die Weisheit, die reine, ewige Freuden schenkt, entschieden. Du bist aber noch nicht am Ende deiner Prüfungen. Wir zwar werden dich nicht neuen Prüfungen unterwerfen, aber der uns von der Gottheit auf den Lebensweg mitgegebene Fortpflanzungstrieb regt sich immer wieder. Auch gibt es uns jetzt unsichtbare Wesen, Geister niederer Ordnung, die ihre Freuden an der Sinnenlust der Menschen haben, sich von den Ausdünstungen des Samens und des Blutes nähren und die Sterblichen durch Eingebung lüsterner Gedanken anregen und reizen. Darum ist es so wichtig, Herrschaft über seine Gedanken zu haben, unreine Eingebungen abweisen zu können.
Die Kräfte des Fortpflanzungstriebes sind ein Segen, wenn sie recht geleitet werden. Diese Kräfte sind uns nicht gegeben zur Befriedigung flüchtiger Sinnenlust, wohl aber ist gottgewollt die Zeugung gesunder Kinder, denn die Menschheit soll fortbestehen und sich weiterentwickeln. Aber noch mehr entspricht es dem Willen der Gottheit, wenn diese Kraftsäfte durch geistige Arbeit und Konzentration im Gehirn verarbeitet werden und wenn durch diese Anstrengungen es einzelnen Mitgliedern des Menschengeschlechts gelingt, vorwärts zu kommen, höhere Stufen zu ersteigen und dann auch anderen weiterhelfen zu können.
Und nun gehe hin in Frieden.“
Auch an diesem Abend sprach der junge Priester, als er auf seinem Lager lag, das heilige Wort aus und wartete. Es war wieder eine helle Mondnacht. Wieder bemächtigte sich seiner ein starkes Grauen. Er sah in seinem Zimmer am Eingang ein Etwas stehen. Es war eine Wolkensäule. Es stand. Er aber konnte kein Wort herausbringen und starrte es an. Es verschwand, plötzlich, geräuschlos, wie es gekommen.
DAS SIEBENTE BILD
Der Wagen des Osiris. Verwirklichung.
Am siebenten Tage sprach der Oberpriester also: „Die Bilder entstehen eines aus dem anderen. Geheimnisvolle Wege führen durch das Buch. Es walten magische Systeme, die auf Zahlenbeziehungen gegründet sind. Heute kannst du etwas vom Osirisweg überblicken. Er zeigt dir das Walten des Osiris. Er zieht sich durch das Buch Thoth vom ersten bis zum neunzehnten Bilde, immer zwei Bilder überspringend. Er umfasst also die Bilder I, IV, VII, X, XIII, XVI, XIX. Sieben Bilder.
Das erste, was wir Sterblichen von der Gottheit, die in Höhen thront, die für die meisten Menschen unergründlich und unzugänglich sind, wahrnehmen, erkennen können, ist das Vorhandensein gewisser Gesetze (Bild IV). Gesetze aber erzeugen Autorität (Bild V), und die Gottheit kann ihre Pläne verwirklichen (Bild VII). Und dies ist der Gottheit Plan für dich. Du bist zur Vollkommenheit berufen. Das bedeutet nicht nur, dass das Schlechte, Niedere in dir absterben, ausgerottet werden soll, und dass du die edlen, höheren Fähigkeiten voll entwickeln sollst, sondern auch, dass du Einsicht in den großen Gang der Dinge zu gewinnen hast.
Und nun betrachten wir unser heutiges Bild näher. Wir können vieles daraus lesen, es gibt uns reichen Stoff zum Nachdenken.
Bild VII – der Oberpriester wies mit der Hand darauf hin, heißt der Triumphwagen des Osiris oder die Verwirklichung des großen Planes. Du siehst einen Mann, der stehend auf einem Wagen fährt. Die Krone auf seinem Haupt, das Zepter in seiner Hand weisen dich auf einen Zusammenhang mit Bild IV, dem Pharao.
Im Bilde I siehst du den das All erschaffenden Gott, Bild IV zeigt dir den nach der Erschaffung ruhenden und die erschaffene Welt durch Gesetze beherrschenden Gott, und auf Bild VII sehen wir den seine Schöpfung der gewollten Vollkommenheit entgegenführenden Gott. Die Sterne auf dem Baldachin des Wagens sagen dir, dass auch die unendlichen Sternenwelten an der Evolution teilnehmen. Du siehst am Wagen die geflügelte Scheibe, auch unsere Erde geht, wie wir und das All, höheren, vergeistigten Daseinsphasen entgegen. Der Phallus am Wagen sagt dir, dass durch Zeugung das Geschlecht der Menschen vorwärts geführt wird: die Form, in der sich die Geister verkörpern, wird immer vollkommener. Beachte auch das Zepter in der Hand des dahinfahrenden Pharao. In Ewigkeit ist Gott in seiner Schöpfung, sagt uns das Dreieck im Viereck, das von einem Kreise umschlossen ist. Der Ewige wird also das Werk seiner Hände nicht verlassen. Der Ewige ist treu. Lerne ruhen in dieser Erkenntnis.
Die schwarze und weiße Sphinx aber, die den Wagen ziehen, sind die bösen und guten Mächte, die alle beide, der Gottheit dienstbar, beitragen müssen zur Verwirklichung des großen Planes. Die Sphinx ist ein rätselhaftes Wesen: Es ist zuweilen nicht verständlich, wie durch gewisse Ereignisse die Pläne der Gottheit gefördert werden können. Wir haben uns da weder aufzuregen noch zu ärgern, sondern vertrauend zu ruhen. Dem großen, mächtigen Herrscher wäre es ein Leichtes, die bösen Mächte zu vernichten, aber er tut es nicht, er braucht sie zur Erziehung seiner Götter, seiner Kinder. Sie sollen das Böse kennen lernen, um sich definitiv von ihm abzuwenden, sie sollen im Kampfe mit den bösen Mächten geübt werden und Kräfte erwerben. Zieht die schwarze Sphinx stärker am Wagen, so muss auch die weiße Sphinx ihre Schritte beschleunigen. Alles dient dem großen Plane. Denn von der Gottheit kommt alles, von ihr wird alles erhalten und zu ihr wird alles geführt.
Und nun gehe und ruhe in dieser Erkenntnis.“
Auch an diesem Abend sprach der junge Priester das heilige Wort aus. Er verspürte nur geringe Furcht. Nach einigen Augenblicken erschien die Wolke. Sie zerteilte sich und ein großer Mann in grauem Gewand stand in der Nähe der Tür. Durch sein Kleid strahlte gedämpftes Licht: Der junge Priester konnte auch diesmal kein Wort sagen.
DAS ACHTE BILD
Wahrheit. Gerechtigkeit.
Am achten Tage sprach der Priester also: „Wahrheit und Gerechtigkeit, die Waage, heißt das Bild, das wir heute betrachten. So wie Bild VII mit Bild IV und Bild I zusammenhängt, so hängt Bild VIII mit Bild V und Bild II zusammen.
Auf Bild II und Bild V empfingst du das Versprechen, es würde dir das geoffenbart werden, was hinter dem Vorhang sei. Bild VIII zeigt dir nun das Wesen dessen, was hinter dem Vorhang ist, die Wahrheit. Du sollst nicht die sich widersprechenden Systeme der Philosophen kennen lernen, du sollst dich nicht gnädig vor der Lehre der Priester dieses oder jenes Tempels beugen, du sollst, nachdem du gewogen und für nicht zu leicht befunden sein wirst, das erkennen, was wirklich ist. Du bist jetzt auf dem Isisweg, der sich über die Bilder II, V, VIII, XI, XIV, XVII und XX durch das Buch Thoth zieht.
Schriftlicher und mündlicher Unterricht führen dich zum Erkennen der Wahrheit und zum Schauen, wie das große Gesetz vom Säen und Ernten, vom Ton und Widerhall, von Tat und Vergeltung waltet.
Sieh dir Bild VIII an. Die Herrschende, auf einem Throne sitzende Frau hält mit verbundenen Augen ein Schwert und eine Waage in den Händen. Das Sitzen deutet auf Ruhe und Leidenschaftslosigkeit. Die verbundenen Augen sagen uns, dass die wägende und strafende Macht kein Ansehen der Person kennt, unparteiisch ist. Sie lässt sich weder durch Schönheit, hohe Abstammung, noch Reichtum beeinflussen oder bestechen. Sie straft gerecht. Sie wägt gerecht.
Fragst du aber: Wie soll ich wissen, ob das Geschaute und Erkannte auch wirklich die Wahrheit ist, so gibt dir das nächste Bild des Isisweges, das drittnächste in der Reihe die Antwort: Mut und magische Kräfte.
Das sei dir der Prüfstein, ob du wirklich die Wahrheit erkannt hast, denn dann wirst du Mut haben. Wahrheit erzeugt Mut. Du wirst zuerst Mut haben, dem Tode entgegenzusehen, nicht den Mut des Tapferen, der die Zähne zusammenbeißt und willensstark dem Tod entgegengeht, sondern den Mut des Weisen, der da weiß, dass der Tod ein oft sich wiederholender Vorgang ist, nur ein Übergang, kein Ende.
Du wirst aber nicht nur Mut dem Tode gegenüber haben, sondern auch dem Leiden und den Menschen gegenüber. Du wirst Leiden gelassen ertragen können, ihre Vergänglichkeit einsehend, und du wirst sie nicht fürchten. Die Wahrheit wird dich von jeglicher Furcht befreien, denn du hast ja auch nichts zu fürchten: alles, Leiden und Freuden, bringt dich deinem Ziel, der Vollkommenheit, näher.
Das ist das erste Merkmal der Wahrheit. Das andere aber ist: Du wirst Kräfte in dir entdecken und sich entwickeln sehen, die du früher nicht gekannt hast. Wie die Sterne in erhabener Ruhe durch den Raum schweben in ihren Bahnen, so wirst du im Einklang mit der Weltenharmonie sie in dir klingen hören und deiner Bestimmung entgegenreifen. Dein Frieden wird groß sein, denn du wirst in allem die göttliche Gerechtigkeit erblicken. Du wirst dich über Leiden und Ungerechtigkeit nicht ärgern, denn du wirst mehr als nur ein Leben überblicken. Du wirst Ursache und Wirkung von Dingen, die du heute erlebst, in weit entlegener Vergangenheit und in weit entfernter Zukunft sehen. Du wirst des Schicksals unsichtbare Fäden von Mensch zu Mensch, von Leben zu Leben verfolgen können. Deine Ruhe wird unerschütterlich sein und dein Glück ungetrübt. Gehe hin und danke der Gottheit.“
Der junge Priester erwartete mit Ungeduld den Abend. Er fürchtete sich nicht mehr. Er hatte verstanden, dass der Bewohner höherer Welten ihn allmählich daran gewöhnen wollte, seine Anwesenheit, seinen Anblick zu ertragen. Er lag. Der Mond schien. Er sprach laut das Wort aus. Er harrte.
Musik von nie gehörter, nie geahnter Lieblichkeit. Die Wolke. Sie zerfließt. Eine leuchtende Gestalt in eigentümlich weißem Gewand.
Ein ernster, ehrwürdiger Mann: „Ich bin der Geist, der dich von Geburt zum Grab, von Leben zu Leben geleitet.“
Er sprach es. Aber der junge Priester hörte keine Stimme. In seinem Inneren vernahm er die Worte. Es war ihm nicht möglich etwas zu fragen. Er wollte es, aber er konnte es nicht.
„Morgen sollst du reden können.“ Der Geist war fort.
DAS NEUNTE BILD
Der Pilger. Vorsicht.
Am neunten Tage sprach der Oberpriester also: „Wir schreiten heute den Horusweg, der sich über die Bilder III, VI, IX, XII, XV, XIII und XXI durch das Buch Thoth zieht. Es ist ein Weg des Leidens, der aber zu großen Höhen führt.
Betrachte das Bild IX, das dritte Bild des Horusweges: Der Mann, den du auf dem Bild siehst, heißt der Pilger; vier Dinge hat er dir zu sagen: er pilgert durch die Wüste, er trägt eine Kapuze, er hat in der einen Hand einen Stab, in der anderen eine Laterne.
Zuerst: er pilgert durch die Wüste. Er hat die Wertlosigkeit der Dinge dieses Lebens erkannt und begehrt Eigenschaften, Fähigkeiten zu erwerben, die ewig sein bleiben. Er fühlt sich fremd hier, weil er von den Reichen des Lichtes und Lebens weiß. Er ist nicht zu Hause; er pilgert nach Hause.
Auch du, mein Sohn, bist nicht zu Hause in diesem Lande, auf unserer Erde. Dein Geist hat seine Heimat im Reiche des Lebens, woher du kamst und wohin du wiederkehrst nach jeder Verkörperung im Geschlechte der Menschen auf Erden. Unser Geist empfindet es oft, dass er hier wie in einer Wüste wandelt und sehnt sich dorthin, wo es keine Fesseln des Körpers, keine Versuchungen durch Begierden, keine Beschränkung durch Raum und Zeit gibt. Daher ist der Mann, in dem der Geist herrscht, ein Pilger in diesem Leben.
Zweitens die Kapuze. Auch sie hat tiefen Sinn. Die Kapuze gestattet weder rückwärts noch seitwärts zu blicken, nur vorwärts. So auch der Mann, der sich seiner Berufung bewusst geworden ist. Er denkt nicht zurück an sein früheres Leben, an die Überlieferungen seines Geschlechtes, er schaut nicht auf dieses oder jenes Vergnügen, das ihm geboten werden könnte und das ihn in der Entwicklung aufhalten würde, nein, er schaut vorwärts, aufwärts. Jene lichtdurchströmten Höhen ziehen mächtig ihn empor, er will werden, wozu er auserwählt worden ist, er ringt nach dem Segen, um ihn anderen weitergeben zu können.
Drittens der Stab. Er bedeutet den Inhalt heiliger Schriften. Was der Pilger in den Büchern gelernt hat, darauf stützt er sich. Die wunderbare Weisheit, die ihm aus ihnen entgegen gestrahlt ist, die unbesiegbare Logik ihres Aufbaues richten ihn immer wieder auf. Und er braucht die Stütze, denn obschon Pilger, ist er doch ein aus verschiedenen Teilen zusammengesetzter Mensch. Nicht nur die Stimme seines Geistes lässt sich in ihm vernehmen, da sind auch die tierischen Bedürfnisse des Körpers, die feineren Forderungen der Seele, die oft überlaut werden. Gar nicht zu reden von all dem, was von außerhalb an ihn herankommen kann. Da kann er in seinen Entschlüssen wankend werden und bedarf eines Stabes, um fest zu bleiben. Die Erinnerung an die große Evolution aller Dinge hilft ihm, gewisse Gedanken, Versuchungen und Sorgen im ewigen Lichte zu sehen und dadurch widrige Strömungen zu überwinden.
Der Gedanke, dass sein Stab nach beendeter Wanderschaft sich in ein königliches Zepter verwandeln wird, flößt dem Pilger wunderbare Kraft ein, hält ihn aufrecht.
Zuletzt, viertens, die Laterne.
Sie, ein eingeschlossenes, ihm anvertrautes Licht, eine von anderen höheren Wesen ihm gegebene Erkenntnis, beleuchtet den Pfad des Pilgers, er sieht die Steine, die Löcher, auch die Schlangen auf seinem Wege und kann sie vermeiden. Die Laterne beleuchtet nicht den ganzen Weg, sie beleuchtet nur ein Stück des Pfades. Würde der Pilger den ganzen Weg überblicken, so würde ihm vielleicht beim Anblick aller Schwierigkeiten und Prüfungen der Mut sinken; darum wird ihm der Weg nur Schritt für Schritt gezeigt. Jeder Tag hat seine Last. Und nun gehe in Frieden, mein Sohn, und lass das Gehörte in Dir nachklingen.“
Ernst und in sich gekehrt ging der junge Priester in seine Kammer. Es war ein stürmischer Abend. Große Wolkenzüge jagten am Monde vorbei, und die hohen Palmen des Gartens bogen sich unter der Macht des Windes, der in ihren Kronen rauschte. Der junge Priester lag und sammelte sich. Er wollte vieles fragen.
Er sprach das heilige Wort aus.
Es dauerte nicht lange, so ertönte wiederum ein liebliches Singen und Klingen, ein Tönen und Zusammenschwingen in der Luft, und zugleich erfüllte ein feiner Wohlgeruch den Raum. Die Wolke drang durch die Tür und zerteilte sich, und der Führer erschien, in langem Gewand, durchleuchtet von innerem Glanz. Er strahlte Hoheit aus und seine Gegenwart erzeugte Ehrfurcht. Er näherte sich dem jungen Priester.
Der erinnerte sich, dass er manches vom Führer erfragen wollte, aber er konnte es nicht, sein Gedächtnis versagte, er hatte vergessen. Er konnte nur die Nähe des erhabenen Bewohners einer höheren Welt fühlen.
Und er hörte wiederum die Stimme in seinem Innern: „Morgen ist der Tag, da du vom Wissen zum Schauen gelangen wirst. Ich werde dich morgen in die Welten der Schatten und des ewigen Lichtes einführen, in die Welten des wahren Daseins.“
Der junge Priester wollte Fragen stellen, er konnte sich aber an nichts erinnern, es war ihm alles wie ausgewischt.
Da fühlte er, wie ihm eine Frage auf die Zunge gelegt wurde: „Wenn ich schon in früheren Leben auf der Erde gewesen bin und zwischen diesem Leben in jenen unsichtbaren Welten geweilt habe, warum erinnere ich mich dessen nicht?“
“Weil zwischen den verschiedenen Reichen Grenzen sind, auf denen Schleier wallen, die sich auf das Bewusstsein der Sterblichen legen beim Übergang von einem Plan in den anderen. Es ist, als ob wir aus einem Strome Vergessenheit trinken, doch wirst du es lernen, die Schleier zu heben und in einem Reich dich dessen, was du im anderen gesehen und erlebt hast, zu erinnern.“
Der junge Priester wollte weiter fragen, aber er wusste nichts. Es fiel ihm nichts ein. Es wurde ihm nicht gegeben, was er hätte fragen können. Der Führer verschwand.