Theodor Reuß – Der Meistergrad der Freimaurer

Der Meistergrad der Freimaurer

Theodor Reuß

Theodor_ReussTheodor Reuß möchte uns die Freimaurer näher bringen. Er bearbeitet im vorliegenden Text die Bedeutung der Stufen der Freimaurerei: Der Lehrling in den Stufen der Meistergrade reift heran und bearbeitet den rohen Stein. Der Geselle arbeitet am kubischen Stein und der Meister am Reißbrett. Mit dem Reißbrett zeichnet der Meister den Maßstab der Wahrheit, nutzt das Winkelmaß des Rechtes und den Zirkel der Pflicht, um die rechten Entwürfe zur Lebensführung zu entwerfen. Der Maßstab der Wahrheit ist die Bibel, die als Sinnbild der göttlichen oder höchsten Wahrheit gilt. Der Maurer strebt nach Wahrheit, ihr ist sein Altar geweiht. Theodor Reuß fasst die Essenz wie folgt zusammen: Durch Bewusstheit in den Handlungen, Entschlossenheit und Unerschrockenheit lerne der Kandidat durch Schickungen und Prüfungen den höchsten Meister zu erkennen und werde so zum Meister der Situation.

 

Ursprünglich bestand innerhalb der Johannisfreimaurerei nur ein Grad mit einem Akt feierlicher Aufnahme. Den Lehrlings-, Gesellen-, Meistergrad gab es nur im Sinne der Werkmaurerei. Meister konnte nur werden, der sieben Jahre gedient, die Meisterprobe bestanden und die Mittel besaß, sich an einem Orte als Maurer niederzulassen. In der Genossenschaft galt er jedoch nicht mehr und nicht weniger als derjenige, welcher nicht Werkmeister war. Auf diese Gepflogenheit ist wohl jene der Maestri Comacini zurückzuführen, welche innerhalb ihrer, vom 8. bis 12. Jahrhundert um den Comosee herum, im Schweizer Kanton Tessin wirkenden Gemeinschaft, alle Handwerker ohne Unterschied “Meister” nannten.

Als ein schönes Beispiel maurerischer Demut wird da ein als Bildhauer zum Künstler gewordener Meister hervorgehoben, welcher sich einfach “Steinmetz” unterschrieb. Mit der Aufnahme gebildeter, und den höheren Kreisen angehörigen Personen in die Brüderschaft scheint allmählich eine gewisse Sichtung nötig geworden zu sein und der Meistergrad, ebenso wie der Lehrlings- und Gesellengrad wurden Produkte der Humanitätsmaurerei nach Gründung der Großloge von England. Der dritte oder Meistergrad wurde in den Jahren 1723-25, durch Anderson und Desagulier in die Johannismaurerei eingeführt. Man brachte in ihm die Versinnbildlichung des Unsterblichkeitsgedankens in einer dramatischen Form zur Darstellung, indem man an den Salomonischen Tempelbau anknüpfte, und dem Meistergrad die Legende von Hiram zum wesentlichen Inhalt gab.

Gegenwärtig wird der Meistergrad in allen Systemen als die dritte, die Johannismaurerei abschließende Stufe verglichen. Systeme ohne Hochgrade müssen also diese Stufe als die umfassendste in der Maurerei betrachten. Für die erweiterte, und insbesondere für die mystische Freimaurerei bildet der Meistergrad jedoch erst den Ausgangspunkt für höhere Grade. Würdig schließt er sich aber den beiden Vorangegangenen, dem Lehrlings- und Gesellengrad an, indem sich vor dem Erwählten des Bundes ein Gesamtbild der ganzen Lehre entrollt, welches nun, gleichsam eine Trinität oder Dreiheit zu einer Sache des Geistes, Herzens und Lebens wurde oder, mit anderen Worten, in das gesamte Denken und Fühlen und Wollen des Freimaurers übergehen muss, um zu einer Sache des ganzen Menschen zu werden.

Der Meister, welcher innerhalb des Lehrlings- und Gesellengrades Gelegenheit hatte, erst Erkenntnis zu erlangen, dann sie zu üben, fühlt sich in diesem Grade erst als ein Gleicher unter Gleichen. Wenn man ihn fragt: “Sind Sie ein Freimaurer-Meister?”, so antwortet er: “Dafür werde ich unter Meistern gehalten”. Sie allein haben vorausgesetzter Weise jenes richtige Urteil erlangt, welches ermöglicht, einen anderen Meister als solchen zu erkennen und zu achten. Diese seine Antwort soll jedoch keinen Stolz ausdrücken, sondern vielmehr eine gewisse, eingangs schon erwähnte “Demut”, verbunden mit edlem Selbstgefühl. Denn niemals darf der Freimaurer vergessen, dass wir Menschen vor dem A.B.a.W. alle eines Ursprungs sind. Durch die Symbolik der vorangegangenen Grade gereift, tritt als wesentliches Symbol nur noch an den Kandidaten heran: Das Reißbrett. Auf ihm sind mit dem Maßstab der Wahrheit, dem Winkelmaß des Rechtes und dem Zirkel der Pflicht gleichsam die Entwürfe zur Lebensführung zu machen.

Der Lehrling bearbeitet den rohen, der Geselle den kubischen Stein, der Meister arbeitet am Reißbrett. Unter dem Maßstab der Wahrheit ist offenbar die Bibel als das Sinnbild der göttlichen oder höchsten Wahrheit gemeint. Eng knüpft sich daran auch die Art, wie diese drei Sinnbilder in den drei Graden liegen.

Eine Eigenschaft, die zu üben dem Meister ganz besonders ans Herz gelegt wird, ist die Reinheit des Herzens. Nicht eine reine Verstandessache ist die Maurerei; sie wendet sich vorzugsweise an das Gemüt. Wahrheit in Worten! Wie Dein Inneres, sei auch das Äußere! Kein Falsch drücke sich aus in dem, was wir denken und sagen, sondern wie wir es meinen, soll es über unsere Lippen gehen. Nach Wahrheit strebt der Maurer, ihr ist sein Altar geweiht! Vorsicht in Handlungen! Überlegenheit und Entschlossenheit müssen ihm immer zur Seite stehen. Dann wird er auch Unerschrockenheit bei unvermeidlichen Übeln bewahren. Er lernt sie als Schickungen und Prüfungen des höchsten Meisters zu erkennen, sich in sie fügen und bleibt, was man so oft nennen hört: Meister der Situation.

Es erübrigt nun noch, einen kurzen Blick zu werfen auf die Einteilung der Bruderschaft in: Lehrlinge, Gesellen und Meister. Das historische Bestehen dieser Einteilung seit bald 2000 Jahren trägt in sich schon eine durch die Zeit geheiligte Berechtigung, indem die Sinnbilder und Gebräuche der Freimaurer sich den Erfordernissen jedes Bildungsgrades und jeder Zeit anpassen und dadurch den Wert eines Gewordenen in sich bergen. Denn sie ruhen auf einem Boden, der in Bild und Sinn eine unmittelbare Verwandtschaft mit dem Weltall, also mit der höchsten und untilgbarsten Idee der Menschheit hat.

Mögen die Erläuterungen unserer Sinnbilder wenigstens einen kleinen Stein zu einem so gewaltigen Bau hinzutragen!