Verwirklichung der Einsicht aufgrund früherer Übung
Hierbei gibt es Wesen, die – obgleich sie gutes Verständnis besitzen – die Wahrheit nicht erkannt, und Wesen, die – obwohl sie diese erkennen – sie nur wenig verwirklicht haben, und alle Arten von einfachen Menschen, die die erbetenen mystischen Anweisungen geübt haben. Wenn sie diese die Übung des Urlichts angewandt haben, dann steigen sie, da sie ja das Urlicht im Augenblick des Todes verstehen, ohne Zwischenzustand, ohne Hemmnis zu dem geburtslosen Zustand des wahren Seins auf.
Wie soll nun die Übung des Urlichts angewandt werden?
Ist der geistliche Lehrer, von dem der Sterbende geistige Anleitungen erbat, gegenwärtig, dann ist es am besten. Ist dieser nicht anwesend, dann soll ein geistlicher Bruder, der Gelübde vom gleichen Lehrer wie der Sterbende erhalten hatte, oder — wenn ein solcher nicht da ist, ein ehrwürdiger Lehrer der gleichen spirituellen Tradition und – wenn keiner von diesen vorhanden ist – irgendeine Person, die diese Worte deutlich und klar lesen kann, die Große Befreiung durch Hören mehrfach lesen! Hat der Lama dem Sterbenden dadurch den Sinn der Anweisungen vergegenwärtigt, wird er augenblicklich des Urlichts ansichtig werden und ohne Zweifel die Befreiung erlangen.
Der Zeitpunkt für die Anleitung: Ist der äußere Atem versiegt und die Vitalität in den zentralen Nervenkanal eingegangen, dann steigt im Bewusstsein des Sterbenden ein von jeder Vorstellung freies Licht auf. Zieht die Vitalität sich zurück und beginnen der rechte und linke Nervenkanal sich voneinander zu lösen, dann steigt langsam die Wahrnehmung des Zwischenzustands auf. Solange der rechte und linke Nervenkanal sich noch nicht getrennt haben, soll Die Große Befreiung durch Hören gelesen werden.
Die Dauer: Der Zeitraum, in dem der äußere Atem versiegt ist, der innere Odem aber noch existiert, währt nur solange, wie man zum Verzehren einer Mahlzeit braucht.
Die Übertragung des Bewusstseins
Die Art und Weise der Anleitung: Es ist am günstigsten, wenn man die Bewusstseinsübertragung zu der Zeit vornimmt, da der Atem nahe am Versiegen ist.
Nimmt man sie nicht vor, erkläre man Folgendes:
Sohn von edlem Stamm, N. N., da nun für dich die Zeit gekommen ist, einen Weg zu suchen, und nachdem dein Atem fast aufgehört hat, wird dir das, was man das Urlicht des ersten Zwischenzustands nennt, und dessen Sinn dir dein Lama früher vor Augen geführt hat, das Sein-an-sich, leer und bloß wie der Himmel als der unbefleckte nackte Geist, der klar und leer, ohne Begrenzung oder Mitte ist, aufgehen. Zu dieser Zeit sollst du dieses erkennen und eben darin verharren! Ich aber werde dich zu dieser Zeit zur Einsicht führen!
Ehe der äußere Atem versiegt ist, wiederhole man dies viele Male nahe seinem Ohr und präge den Sinn seinem Geist ein! Wenn danach der äußere Atem fast versiegt ist, lege man den Sterbenden mit seiner rechten Seite auf die Erde und bringe ihn in die Löwenstellung. Dadurch wird das Pulsieren in der rechten Hauptarterie gehemmt, und die beiden Arterien werden stark gedrückt, bis der Puls zu schlagen aufhört und ein schlafähnlicher Zustand herbeigeführt wird. Nachdem die Vitalität in den Nervenkanal eingegangen ist und nicht mehr zurückkehren kann, ist es gewiss, dass sie durch die Fontanelle austritt. Auch während dieser Zeit wird die Anleitung vorgelesen. Zu dieser Zeit steigt im Geist aller Wesen eine ganz lautere Ahnung des wahren Seins auf, was man auch als das Licht des Seins-an-sich während des ersten Zwischenzustands bezeichnet.
Ist der äußere Atem versiegt, der innere Odem aber noch nicht, so ist der Zeitpunkt, da die Vitalität in den zentralen Nervenkanal eingeht, nahe. Einfache Leute sagen dazu, das Bewusstsein des Sterbenden wird ohnmächtig. Die Dauer dieses Vorganges ist ungewiss. Sie beruht auf der Qualität seiner geist-körperlichen Grundlagen und dem Fortschritt, den der Sterbende in der Vitalitäts-Meditation gemacht hat; bei jenen, die eine reiche yogische Übung und Festigkeit in der Meditation der Stille haben und zu denen gehören, deren Nervenkanäle geläutert sind, kann dieser Zustand lange dauern.
Wenn dies zutrifft, dann soll man eifrig in der Anleitung fortfahren, bis aus den Öffnungen der Sinnesorgane eine gelbliche Flüssigkeit austritt. Bei denen, die voller Fehler und deren Nervenkanäle unrein sind, dauert dieser Zustand nicht einmal solange wie ein Fingerschnalzen. Bei einigen dauert er nicht länger als das Verzehren einer Mahlzeit. Da die meisten Sutras und Tantras lehren, dass dieser Zustand drei und einen halben Tag andauere, und da er auch in den meisten Fällen drei und einen halben Tag anhält, soll man diese Anleitung mit Eifer betreiben!
Die Geisteshaltung der Erleuchtung
Die Art und Weise der Anleitung: Wenn der Sterbende die Kraft hatte, bereits früher auf das eigene Heil hinzuarbeiten, dann erübrigt sich das Folgende. Hatte er sie jedoch nicht, dann soll der Lama, der Schüler oder ein geistlicher Bruder, der ihm innerlich sehr verbunden war, nahe bei ihm dies vortragen:
Nun ist das Zeichen da, dass sich Festes in Flüssiges auflöst, Flüssiges in Hitziges und Hitziges in Vitalität und Vitalität in Bewusstsein.
So sind die äußeren Merkmale gleichsam der Reihe nach klar darzulegen. Sind die äußeren Merkmale des Todes nun nahezu vollständig, dann ermahne man den Sterbenden folgendermaßen, so dass er die Geisteshaltung der Erleuchtung hervorbringe: Sohn der Edlen, oder, wenn er ein Lama war,ehrwürdiger Herr, lass dein Denken sich nicht zerstreuen! So flüstere man ihm mit leiser Stimme ins Ohr.
War der Sterbende ein geistlicher Bruder oder ein anderer Mensch, dann rufe man ihn mit Namen und spreche: Edler Sohn, du bist nun hier bei dem angelangt, was man den Tod nennt. Die Geisteshaltung der Erleuchtung sollst du so hervorbringen!
Wehe, da nun für mich die Todesstunde gekommen ist, will ich, gestützt auf dieses Todeserlebnis, nur Liebe, Mitleid und die Geisteshaltung der Erleuchtung in mir erwecken. Damit ich zum Heil aller Wesen, die endlos wie der Himmel sind, die vollkommene Buddhaschaft erlangen möge!
Indem du dies denkst und die Geisteshaltung der Erleuchtung hervorbringst und besonders zu der Zeit, da du nach dem Heil aller Lebewesen verlangst, wirst du das Licht im Tode als das Wesen des Wahren Seins erkennen. Aufgrund der Natur dieses Lichtes wirst du die höchste Vollendung des Großen Siegels erlangen und zum Heile aller Lebewesen wirken. Solltest du aber diese höchste Vollendung nicht erlangen, musst du den Zwischenzustand als solchen erkennen und den Zustand des Großen Siegels gleichzeitig mit dem Zwischenzustand verwirklichen. Mit einer Gestalt, die zum Belehren geeignet ist, wie immer sie beschaffen sei, mögest du zum Heile aller Lebewesen wirken, die unendlich wie der Himmel sind. Ohne den Gedanken an die Geisteshaltung der Erleuchtung aufzugeben, sollst du dich der früheren Unterweisung in der Meditation und ihrer Übung erinnern.
Dies erkläre man mit klaren Worten, indem man den Mund nahe am Ohr des Sterbenden hat, und helfe ihm, sich seine frühere Übung zu vergegenwärtigen, damit er nicht einen Augenblick in Zerstreuung verfällt.
Einsicht in das Urlicht
Wenn danach der äußere Atem ganz versiegt ist und die Arterien, die sich im Schlaf befinden, stark gepresst werden, spreche man dies wörtlich klar aus.
Wenn er ein Lam oder größer als man selbst, war, spreche man: Ehrwürdiger, dir wird nun die Erscheinung des Urlichtes aufgehen. Dies erkenne als solches! Ich bitte dich, nimm diese Übung auf dich.
So bitte man ihn. Alle anderen Sterbenden unterweise man folgendermaßen: Sohn der Edlen, N. N., höre! Dir wird nun das reinste Licht des Wahren Seins aufleuchten. Dies musst du erkennen! Sohn der Edlen, das innewohnende Sein deines gegenwärtigen Erkennens ist eben diese bloße Leere; diese hat auch kein Sein als Ding, Phänomen oder Farbe, sondern ist bloße Leere. Dies eben ist die absolute Wirklichkeit als der weibliche Buddha Samantabhadra. Da dein Erkennen bloß in Leere besteht, lass diese Leere nicht bedeutungslos werden: Dieses noch nicht vergangene Erkennen ist eben der klare, leuchtende Geist, ist der männliche Buddha Samantabhadra. Deine eigene Geist-Natur ist leer an innewohnendem Sein und an jeglicher Substanz, während dein Intellekt leuchtend klar ist. Diese beiden Geist-Natur und Intellekt sind untrennbar, und sie sind das Wahre Sein, der Buddha. Deine Geist-Natur, gleichermaßen klar und leer, besteht in einer Fülle von Licht, und da sie frei von Werden und Vergehen ist, ist sie eben der Buddha des unvergänglichen Lichtes i. e. Amitabha]. Dies erkenne! Hast du deine eigene geistige und intellektuelle Natur als leer an einem innewohnenden Sein, als Buddha erkannt, dann schaue selbst auf deine geistige Natur. Dies ist das Versunkensein in die Andacht des Buddha.
So soll man drei- bis siebenmal deutlich und klar vorlesen. Da damit der Sterbende sich erstens der Unterweisungen seines früheren Lamas erinnert, zweitens die nackte eigene Geist-Natur als lichthaft erkennt und da er drittens vom Wahren Sein nicht mehr zu unterscheiden ist, nachdem er sein eigenes Sein erkannt hat, wird er sicher befreit. Damit kann er durch die Einsicht in das Urlicht beim ersten Mal befreit werden.
Auch wenn man zweifelt, ob der Sterbende das erste Licht begriffen hat, so wird ihm das, was man das zweite Licht nennt, aufscheinen. Was dessen Dauer betrifft, so währt es, nachdem der äußere Atem versiegt ist, etwas länger, als man zum Verzehren einer Mahlzeit braucht. Je nach der Qualität des Karma entweicht die Vitalität aus dem mittleren Nervenkanal in die entsprechende rechte oder linke und tritt aus der jeweiligen Körperöffnung hervor, womit das Bewusstsein Klarheit gewinnt.
Wenn gesagt wurde, dieser Zustand dauere so lange, wie man braucht, um eine Mahlzeit zu verzehren, dann beruht das auf der Qualität seiner Nervenbahnen und dem Ausmaß seiner yogischen Übungen. Zu dieser Zeit, da das Bewusstsein ausgetreten ist, kann der Tote nicht erkennen, ob er gestorben ist oder nicht. Er wird seine Verwandten wie früher erblicken und ihr Weinen und Klagen hören. So lange, wie die trügerischen Erscheinungen des Karma und die Angst vor dem Todesgott noch nicht aufgetreten sind, soll man auch in der Unterweisung fortfahren. Hierbei besteht ein Unterschied zwischen jenen, die die Stufe der Vollkommenheit, und denen, die die Stufe der Imagination, erreicht haben:
Wenn der Tote die Stufe der Vollkommenheit erreicht hat, rufe man ihn dreimal bei seinem Namen und erkläre ihm wiederholt die obige Unterweisung über das Licht. Wenn er die Stufe der Imagination erreicht hat, lese man ihm das Haupt-Sadhana und ikonographische Beschreibungen seiner jeweiligen Gottheit vor über deren Erscheinung der Tote zu Lebzeiten meditierte: Sohn der Edlen, betrachte deine schützende Gottheit! Sei nicht zerstreut und versenke dich mit großem Eifer in die schützende Gottheit! Ihre Erscheinung betrachte als ohne substantielles Sein, gleich dem Spiegelbild des Mondes im Wasser! Du sollst sie nicht als materiell betrachten!
So unterweise der Lama den Toten klar. War der Tote ein gewöhnlicher Mensch, dann unterweise man ihn mit den Worten: Betrachte den Herrn des Großen Mitleids (Avalokiteshara)!
Da man in dieser Weise dem Toten zur Einsicht verhilft, werden sogar ohne Zweifel diejenigen die Wahrheit begreifen, die von sich aus den Zwischenzustand nicht erfassen könnten.