Rudolf Steiner – Geheimschulung

DIE BEDINGUNGEN ZUR GEHEIMSCHULUNG

Rudolf Steiner (1904)

Rudolf Steiner

Der Anthroposoph Rudolf Steiner, welcher sich auch mit Landwirtschaft, Pädagogik (Waldorfschule), Kunst und Medizin befasste, meint, dass für den Geheimschüler ein Streben aus ganzem Herzen nach einer solchen Erfüllung wie sie die Einweihung mit sich bringt, sowie körperliche und geistige Gesundheit, bzw. die Bereitschaft seine Gewohnheiten zum Besseren zu verändern, als auch Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit unabdingbar sei. Rudolf Steiner vertritt die Ansicht, dass sich seine Liebe, in Liebe zu allen Wesen und zu allem Dasein entwickeln soll. So könne das Menschenheil und die Entwicklung der Menschheit gefördert werden.

Die Bedingungen zum Antritt der Geheimschulung sind nicht solche, die von irgend jemand durch Willkür festgesetzt werden. Sie ergeben sich aus dem Wesen des Geheimwissens. Wie ein Mensch nicht Maler werden kann, der keinen Pinsel in die Hand nehmen Will, so kann niemand eine Geheimschulung empfangen, der nicht erfüllen will, was die Geheimlehrer als notwendige Forderung angeben. Im Grunde kann der Geheimlehrer nichts geben als Ratschläge. Und in diesem Sinne ist auch alles aufzunehmen, was er sagt. Er hat die vorbereitenden Wege zum Erkennen der höheren Welten durchgemacht. Er weiß aus Erfahrung, was notwendig ist. Es hängt ganz von dem freien Willen des einzelnen ab, ob er die gleichen Wege wandeln will oder nicht. Wenn jemand verlangen wollte, dass ihm ein Lehrer eine Geheimschulung zukommen ließe, ohne die Bedingungen erfüllen zu wollen, so gliche eine solche Forderung eben durchaus der: lehre mich malen, aber befreie mich davon, einen Pinsel zu berühren. Der Geheimlehrer kann auch niemals etwas bieten, wenn ihm nicht der freie Wille des Aufnehmenden entgegenkommt.

Aber es muss betont werden, dass der allgemeine Wunsch nach höherem Wissen nicht genügt. Diesen Wunsch werden natürlich viele haben. Wer nur diesen Wunsch hat, ohne auf die besonderen Bedingungen der Geheimschulung eingehen zu wollen, von dem kann zunächst nichts erreicht werden. Das sollen diejenigen bedenken, die sich darüber beklagen, dass die Geheimschulung ihnen nicht leicht wird. Wer die strengen Bedingungen nicht erfüllen kann oder will, der muss eben vorläufig auf Geheimschulung verzichten. Zwar sind die Bedingungen streng, aber nicht hart, da ihre Erfüllung nicht nur eine freie Tat sein soll, sondern sogar sein muss.

Wer das nicht bedenkt, für den können die Forderungen der Geheimschulung leicht als Seelen- oder Gewissenszwang erscheinen. Denn die Schulung beruht ja auf einer Ausbildung des inneren Lebens; der Geheimlehrer muss also Ratschläge erteilen, die sich auf dieses innere Leben beziehen. Aber nichts kann als Zwang aufgefasst werden, was als Ausfluss eines freien Entschlusses gefordert wird. Wenn jemand von dem Lehrer forderte: teile mir deine Geheimnisse mit, aber lasse mich bei meinen gewohnten Empfindungen, Gefühlen und Vorstellungen, so verlangt er eben etwas ganz Unmögliches. Er will dann nichts weiter als die Neugierde, den Wissenstrieb befriedigen. Bei einer solchen Gesinnung kann aber Geheimwissen nie erlangt werden.

Es sollen nun der Reihe nach die Bedingungen für den Geheimschüler entwickelt werden. Es muss betont werden, dass bei keiner dieser Bedingungen eine vollständige Erfüllung verlangt wird, sondern lediglich das Streben nach einer solchen Erfüllung. Ganz erfüllen kann die Bedingungen niemand; aber sich auf den Weg zu ihrer Erfüllung begeben kann jeder. Nur auf den Willen, auf die Gesinnung, sich auf diesen Weg zu begeben, kommt es an.

Die erste Bedingung ist: man richte sein Augenmerk darauf, die körperliche und geistige Gesundheit zu fördern. Wie gesund ein Mensch ist, das hängt zunächst natürlich nicht von ihm ab. Danach trachten, sich nach dieser Richtung zu fördern, das kann ein jeder. Nur aus einem gesunden Menschen kann gesunde Erkenntnis kommen. Die Geheimschulung weist einen nicht gesunden Menschen nicht zurück; aber sie muss verlangen, dass der Schüler den Willen habe, gesund zu leben. Darinnen muss der Mensch die möglichste Selbständigkeit erlangen. Die guten Ratschläge anderer, die zumeist ungefragt jedem zukommen, sind in der Regel ganz überflüssig. Ein jeder muss sich bestreben, selbst auf sich zu achten. Vielmehr wird es sich in physischer Beziehung darum handeln, schädliche Einflüsse abzuhalten, als um anderes. Um unsere Pflichten zu erfüllen, müssen wir uns ja oft Dinge auferlegen, die unserer Gesundheit nicht förderlich sind. Der Mensch muss verstehen, im rechten Falle die Pflicht höher zu stellen als die Sorge um die Gesundheit. Aber was kann nicht alles unterlassen werden bei einigem guten Willen! Die Pflicht muss in vielen Fällen höher stehen als die Gesundheit, ja oft höher als das Leben; der Genuss darf es bei dem Geheimschüler nie. Bei ihm kann der Genuss nur ein Mittel für Gesundheit und Leben sein.

Und es ist in dieser Richtung durchaus notwendig, dass man ganz ehrlich und wahrhaftig gegen sich selbst sei. Nichts nützt es, ein asketisches Leben zu führen, wenn dieses aus ähnlichen Beweggründen entspringt wie andere Genüsse. Es kann jemand an dem Asketismus ein Wohlgefallen haben wie ein anderer am Weintrinken. Er kann aber nicht hoffen, dass ihm dieser Asketismus etwas zu höherer Erkenntnis nütze. Viele schieben alles, was sie scheinbar hindert, sich nach dieser Richtung zu fördern, auf ihre Lebenslage. Sie sagen: “Bei meinen Lebensverhältnissen kann ich mich nicht entwickeln.” Es mag für viele in anderer Beziehung wünschenswert sein, ihre Lebenslage zu ändern; zum Zwecke der Geheimschulung braucht dies kein Mensch zu tun. Zu diesem Ziele braucht man nur gerade in der Lage, in der man ist, so viel für seine leibliche und seelische Gesundheit zu tun, als möglich ist. Eine jegliche Arbeit kann dem Ganzen der Menschheit dienen; und es ist viel größer von der Menschenseele, sich klarzumachen, wie notwendig eine kleinliche, vielleicht hässliche Arbeit für dieses Ganze ist, als zu glauben: “Diese Arbeit ist für mich zu schlecht, ich bin zu anderem berufen.” Besonders wichtig für den Geheimschüler ist das Streben nach völliger geistiger Gesundheit. Ungesundes Gemüts- und Denkleben bringt auf alle Fälle von den Wegen zu höheren Erkenntnissen ab. Klares, ruhiges Denken, sicheres Empfinden und Fühlen sind hier die Grundlage. Nichts soll ja dem Geheimschüler ferner liegen als die Neigung zum Phantastischen, zum aufgeregten Wesen, zur Nervosität, zur Exaltation, zum Fanatismus. Einen gesunden Blick für alle Verhältnisse des Lebens soll er sich aneignen; sicher soll er sich im Leben zurechtfinden; ruhig soll er die Dinge zu sich sprechen und auf sich wirken lassen. Er soll sich bemühen, überall, wo es nötig ist, dem Leben gerecht zu werden. Alles Überspannte, Einseitige soll in seinem Urteilen und Empfinden vermieden werden. Würde diese Bedingung nicht erfüllt, so käme der Geheimschüler statt in höhere Welten in diejenige seiner eigenen Einbildungskraft; statt der Wahrheit machten sich Lieblingsmeinungen bei ihm geltend. Besser ist es für den Geheimschüler, “nüchtern” zu sein als exaltiert und phantastisch.

Die zweite Bedingung ist, sich als ein Glied des ganzen Lebens zu fühlen. In der Erfüllung dieser Bedingung ist viel eingeschlossen. Aber ein jeder kann sie nur auf seine eigene Art erfüllen. Bin ich Erzieher und mein Zögling entspricht nicht dem, was ich wünsche, so soll ich mein Gefühl zunächst nicht gegen den Zögling richten, sondern gegen mich selbst. Ich soll mich so weit als eins mit meinem Zögling fühlen, dass ich mich frage: “Ist das, was beim Zögling nicht genügt, nicht die Folge meiner eigenen Tat?” Statt mein Gefühl gegen ihn zu richten, werde ich dann vielmehr darüber nachdenken, wie ich mich selbst verhalten soll, damit in Zukunft der Zögling meinen Forderungen besser entsprechen könne. Aus solcher Gesinnungsart heraus ändert sich allmählich die ganze Denkungsart des Menschen. Das gilt für das Kleinste wie für das Größte. Ich sehe aus solcher Gesinnung heraus zum Beispiel einen Verbrecher anders an als ohne dieselbe. Ich halte zurück mit meinem Urteile und sage mir: “Ich bin nur ein Mensch wie dieser. Die Erziehung, die durch die Verhältnisse mir geworden ist, hat mich vielleicht allein vor seinem Schicksale bewahrt.”

Ich komme dann wohl auch zu dem Gedanken, dass dieser Menschenbruder ein anderer geworden wäre, wenn die Lehrer, die ihre Mühe auf mich verwendet haben, sie hätten ihm angedeihen lassen. Ich werde bedenken, dass mir etwas zuteil geworden ist, was ihm entzogen war, dass ich mein Gutes gerade dem Umstand verdanke, dass es ihm entzogen worden ist. Und dann wird mir die Vorstellung auch nicht mehr ferne liegen, dass ich nur ein Glied in der ganzen Menschheit bin und mitverantwortlich für alles, was geschieht. Es soll hier nicht gesagt werden, dass ein solcher Gedanke sich sofort in äußere agitatorische Taten umsetzen soll. Aber still in der Seele soll er gepflegt werden. Dann wird er sich ganz allmählich in dem äußeren Verhalten eines Menschen ausprägen. Und in solchen Dingen kann doch jeder nur bei sich selbst zu reformieren anfangen. Nichts fruchtet es, im Sinne solcher Gedanken allgemeine Forderungen an die Menschheit zu stellen. Wie die Menschen sein sollen: darüber ist leicht ein Urteil gebildet; der Geheimschüler aber arbeitet in der Tiefe, nicht an der Oberfläche. Es wäre daher ganz unrichtig, wenn man die hier angedeutete Forderung der Geheimlehrer mit irgendeiner äußerlichen, etwa gar einer politischen Forderung in Verbindung brächte, mit der die Geistesschulung nichts zu tun haben kann. Politische Agitatoren “wissen” in der Regel, was von anderen Menschen zu “fordern” ist; von Forderungen an sich selbst ist bei ihnen weniger die Rede.

Und damit hängt die dritte Bedingung für die Geheimschulung unmittelbar zusammen. Der Zögling muss sich zu der Anschauung emporringen können, dass seine Gedanken und Gefühle ebenso Bedeutung für die Welt haben wie seine Handlungen. Es muss erkannt werden, dass es ebenso verderblich ist, wenn ich meinen Mitmenschen hasse, wie wenn ich ihn schlage. Dann komme ich auch zu der Erkenntnis, dass ich nicht nur für mich etwas tue, wenn ich mich selbst vervollkommene, sondern auch für die Welt. Aus meinen reinen Gefühlen und Gedanken zieht die Welt ebensolchen Nutzen wie aus meinem Wohlverhalten. Solange ich nicht glauben kann an diese Weltbedeutung meines Innern, so lange tauge ich nicht zum Geheimschüler. Erst dann bin ich von dem rechten Glauben an die Bedeutung meines Inneren, meiner Seele erfüllt, wenn ich an diesem Seelischen in der Art arbeite, als wenn es zum mindesten ebenso wirklich wäre wie alles Äußere. Ich muss zugeben, dass mein Gefühl ebenso eine Wirkung hat wie eine Verrichtung meiner Hand.

Damit ist eigentlich schon die vierte Bedingung ausgesprochen: die Aneignung der Ansicht, dass des Menschen eigentliche Wesenheit nicht im Äußerlichen, sondern im Inneren liegt. Wer sich nur als ein Produkt der Außenwelt ansieht, als ein Ergebnis der physischen Welt, kann es in der Geheimschulung zu nichts bringen. Sich als seelisch-geistiges Wesen fühlen ist eine Grundlage für solche Schulung. Wer zu solchem Gefühle vordringt, der ist dann geeignet zu unterscheiden zwischen innerer Verpflichtung und dem äußeren Erfolge. Er lernt erkennen, dass das eine nicht unmittelbar an dem anderen gemessen werden kann. Der Geheimschüler muss die rechte Mitte finden zwischen dem, was die äußeren Bedingungen vorschreiben, und dem, was er als das Richtige für sein Verhalten erkennt. Er soll nicht seiner Umgebung etwas aufdrängen, wofür diese kein Verständnis haben kann; aber er soll auch ganz frei sein von der Sucht, nur das zu tun, was von dieser Umgebung anerkannt werden kann. Die Anerkennung für seine Wahrheiten muss er einzig und allein in der Stimme seiner ehrlichen, nach Erkenntnis ringenden Seele suchen.

Aber lernen soll er von seiner Umgebung, soviel er nur irgend kann, um herauszufinden, was ihr frommt und nützlich ist. So wird er in sich selbst das entwickeln, was man in der Geheimwissenschaft die “geistige Waage” nennt. Auf einer ihrer Waagschalen liegt ein “offenes Herz” für die Bedürfnisse der Außenwelt, auf der anderen “innere Festigkeit und unerschütterliche Ausdauer”. Und damit ist auf die fünfte Bedingung gedeutet: die Standhaftigkeit in der Befolgung eines einmal gefassten Entschlusses. Nichts darf den Geheimschüler dazu bringen, von einem gefassten Entschluss abzukommen, als lediglich die Einsicht, dass er im Irrtume befangen ist. Jeder Entschluss ist eine Kraft, und wenn diese Kraft auch nicht einen unmittelbaren Erfolg da hat, wohin sie zunächst gewandt ist, sie wirkt in ihrer Weise. Der Erfolg ist nur entscheidend, wenn man eine Handlung aus Begierde vollbringt. Aber alle Handlungen, die aus Begierde vollbracht werden, sind wertlos gegenüber der höheren Welt. Hier entscheidet allein die Liebe zu einer Handlung. In dieser Liebe soll sich ausleben alles, was den Geheimschüler zu einer Handlung treibt. Dann wird er auch nicht erlahmen, einen Entschluss immer wieder in Tat umzusetzen, wie oft er ihm auch misslungen sein mag. Und so kommt er dazu, nicht erst die äußeren Wirkungen seiner Taten abzuwarten, sondern sich an den Handlungen selbst zu befriedigen. Er wird lernen, seine Taten, ja sein ganzes Wesen der Welt zu opfern, wie auch immer diese sein Opfer aufnehmen mag. Zu solchem Opferdienst muss sich bereit erklären, wer Geheimschüler werden will.

Eine sechste Bedingung ist die Entwicklung des Gefühles der Dankbarkeit gegenüber allem, was dem Menschen zukommt. Man muss wissen, dass das eigene Dasein ein Geschenk des ganzen Weltalls ist. Was ist alles notwendig, damit jeder von uns sein Dasein empfangen und fristen kann! Was verdanken wir der Natur und anderen Menschen! Zu solchen Gedanken müssen diejenigen geneigt sein, die Geheimschulung wollen. Wer sich ihnen nicht hingeben kann, der vermag nicht in sich jene Alliebe zu entwickeln, die notwendig ist, um zu höherer Erkenntnis zu kommen. Etwas, das ich nicht liebe, kann sich mir nicht offenbaren. Und eine jede Offenbarung muss mich mit Dank erfüllen, denn ich werde durch sie reicher. Alle die genannten Bedingungen müssen sich in einer siebenten vereinigen: das Leben unablässig in dem Sinne aufzufassen, wie es die Bedingungen fordern. Dadurch schafft sich der Zögling die Möglichkeit, seinem Leben ein einheitliches Gepräge zu geben. Seine einzelnen Lebensäußerungen werden miteinander im Einklang, nicht im Widerspruch stehen. Er wird zu der Ruhe vorbereitet sein, zu welcher er kommen muss während der ersten Schritte in der Geheimschulung. Hat jemand den ernsten und ehrlichen Willen, die angegebenen Bedingungen zu erfüllen, dann mag er sich zur Geistesschulung entschließen. Er wird sich dann bereitfinden, die angeführten Ratschläge zu befolgen. Es mag gar manchem vieles an diesen Ratschlägen wie etwas Äußerliches erscheinen. Ein solcher wird vielleicht sagen, er hätte erwartet, dass die Schulung in weniger strengen Formen verlaufen sollte. Aber alles Innere muss sich in einem Äußeren ausleben. Und ebensowenig, wie ein Bild schon da ist, wenn es bloß im Kopf des Malers existiert, ebensowenig kann eine Geheimschulung ohne äußeren Ausdruck sein. Nur diejenigen achten die strengen Formen gering, welche nicht wissen, dass im Äußeren das Innere zum Ausdruck kommen muss. Es ist wahr, dass es auf den Geist einer Sache ankommt und nicht auf die Form. Aber so wie die Form ohne den Geist nichtig ist, so wäre der Geist tatenlos, wenn er sich nicht eine Form erschüfe.
Die gestellten Bedingungen sind geeignet, den Geheimschüler stark genug zu machen, um auch die weiteren Forderungen zu erfüllen, welche die Geistesschulung an ihn stellen muss. Fehlen ihm diese Bedingungen, dann wird er vor jeder neuen Anforderung mit Bedenken stehen. Er wird ohne sie das Vertrauen nicht zu den Menschen haben können, das für ihn notwendig ist. Und auf Vertrauen und wahre Menschenliebe muss alles Wahrheitsstreben gebaut sein. Es muss darauf gebaut sein, obgleich es nicht daraus entspringen, sondern nur aus der eigenen Seelenkraft quellen kann. Und die Menschenliebe muss sich allmählich erweitern zur Liebe zu allen Wesen, ja zu allem Dasein. Wer die genannten Bedingungen nicht erfüllt, wird auch nicht die volle Liebe zu allem Aufbauen, zu allem Schaffen haben, und die Neigung, alle Zerstörung, alles Vernichten als solche zu unterlassen. Der Geheimschüler muss so werden, dass er nie etwas vernichtet um des Vernichtens willen, nicht in Handlungen, aber auch nicht in Worten, Gefühlen und Gedanken. Für ihn soll es Freude am Entstehen, am Werden geben; und nur dann darf er die Hand bieten zu einer Vernichtung, wenn er auch imstande ist, aus und durch die Vernichtung neues Leben zu fördern. Damit ist nicht gemeint, dass der Geheimschüler zusehen darf, wie das Schlechte überwuchert; aber er soll sogar am Schlechten diejenigen Seiten suchen, durch die er es in ein Gutes wandeln kann. Er wird sich immer klarer darüber, dass die richtigste Bekämpfung des Schlechten und Unvollkommenen das Schaffen des Guten und Vollkommenen ist. Der Geheimschüler weiß, dass aus dem Nichts nicht etwas geschaffen werden kann, dass aber das Unvollkommene in ein Vollkommenes umgewandelt werden kann. Wer in sich die Neigung zum Schaffen entwickelt, der findet auch bald die Fähigkeit, sich dem Schlechten gegenüber richtig zu verhalten.

Wer in eine Geheimschulung sich einlässt, muss sich klarmachen, dass durch sie gebaut und nicht zerstört werden soll. Er soll daher den Willen zur ehrlichen, hingebungsvollen Arbeit, nicht zur Kritik und zum Zerstören mitbringen. Er soll der Andacht fähig sein, denn man soll lernen, was man noch nicht weiß. Man soll andächtig zu dem blicken, was sich erschließt. Arbeit und Andacht: das sind Grundgefühle, die von dem Geheimschüler gefordert werden müssen. Mancher wird erfahren müssen, dass er in der Schulung nicht vorwärtskommt, trotzdem er, nach seiner Ansicht, rastlos tätig ist. Es kommt davon her, dass er die Arbeit und Andacht nicht im rechten Sinne erfasst hat. Diejenige Arbeit wird den geringsten Erfolg haben, die um dieses Erfolges willen unternommen wird, und dasjenige Lernen wird am wenigsten vorwärtsbringen, das ohne Andacht verläuft. Die Liebe zur Arbeit, nicht zum Erfolg, bringt allein vorwärts. Und wenn der Lernende gesundes Denken und sicheres Urteilen sucht, so braucht er sich nicht durch Zweifel und Misstrauen die Andacht zu verkümmern.

Man braucht nicht zu sklavischer Abhängigkeit im Urteilen zu kommen, wenn man einer Mitteilung, die man empfängt, nicht zuerst die eigene Meinung, sondern eine ruhige Andacht und Hingabe entgegenbringt. Diejenigen, welche in der Erkenntnis einiges erlangt haben, wissen, dass sie nicht dem eigensinnigen persönlichen Urteile, sondern dem ruhigen Hinhorchen und Verarbeiten alles verdanken. Man soll stets im Auge behalten, dass man das nicht mehr zu lernen braucht, was man schon beurteilen kann. Will man also nur urteilen, so kann man überhaupt nicht mehr lernen. In der Geheimschulung kommt es aber auf das Lernen an. Man soll da ganz und gar den Willen haben, ein Lernender zu sein. Kann man etwas nicht verstehen, dann urteile man lieber gar nicht, als dass man verurteile. Man lasse sich dann das Verständnis für eine spätere Zeit. Je höher man die Stufen der Erkenntnis hinansteigt, desto mehr hat man dieses ruhige, andächtige Hinhorchen nötig. Alles Erkennen der Wahrheit, alles Leben und Handeln in der Welt des Geistes wird auf höheren Gebieten subtil, zart im Vergleich mit den Verrichtungen des gewöhnlichen Verstandes und des Lebens in der physischen Welt. Je mehr sich die Kreise des Menschen erweitern, desto feiner werden die Verrichtungen, die er vorzunehmen hat. Weil dies so ist, deshalb kommen die Menschen in Bezug auf höhere Gebiete zu so verschiedenen “Ansichten” und “Standpunkten”.

Allein, es gibt auch über höhere Wahrheiten in Wirklichkeit nur eine Meinung. Man kann zu dieser einen Meinung kommen, wenn man sich durch Arbeit und Andacht dazu erhoben hat, die Wahrheit wirklich zu schauen. Nur derjenige kann zu einer Ansicht kommen, die von der einen wahren abweicht, der, nicht genügend vorbereitet, nach seinen Lieblingsvorstellungen, seinen gewohnten Gedanken und so weiter urteilt. Wie es nur eine Ansicht über einen mathematischen Lehrsatz gibt, so auch über die Dinge der höheren Welten. Aber man muss sich erst vorbereiten, um zu einer solchen “Ansicht” kommen zu können. Wenn man das bedenken wollte, so würden für niemand die Bedingungen der Geheimlehrer etwas Überraschendes haben.

Es ist durchaus richtig, dass die Wahrheit und das höhere Leben in jeder Menschenseele wohnen und dass sie ein jeder selbst finden kann und muss. Aber sie liegen tief und können nur nach Hinwegräumung von Hindernissen aus ihren tiefen Schächten heraufgeholt werden. Wie man das vollbringt, darüber kann nur raten, wer Erfahrung in der Geheimwissenschaft hat. Solchen Rat gibt die Geisteswissenschaft. Sie drängt niemand eine Wahrheit auf, sie verkündet kein Dogma; sie zeigt aber einen Weg. Zwar könnte jeder vielleicht aber erst nach vielen Verkörperungen diesen Weg auch allein finden; doch ist es eine Verkürzung des Weges, was in der Geheimschulung erreicht wird. Der Mensch gelangt dadurch früher zu einem Punkte, auf dem er mitwirken kann in den Welten, wo das Menschenheil und die Menschenentwicklung durch geistige Arbeit gefördert werden.

Damit sind die Dinge angedeutet, welche zunächst über die Erlangung höherer Welterfahrung mitgeteilt werden sollen. Im nächsten Kapitel sollen diese Ausführungen dadurch fortgesetzt werden, dass gezeigt wird, was in den höheren Gliedern der Menschennatur (im Seelenorganismus oder Astralleib und im Geiste oder Gedankenleib) vorgeht während dieser Entwickelung. Dadurch werden diese Mitteilungen in eine neue Beleuchtung gerückt, und es wird in einem tieferen Sinne in sie eingedrungen werden können.