PRAKTISCHE GESICHTSPUNKTE DER EINWEIHUNG
Rudolf Steiner (1904)
Dr. Rudolf Steiner sieht in der Einweihung eine tiefe Wirkung auf die Seele des Aspiranten. Das Seelenleben spiegle sich in der Aura des Menschen. Höhere Erkenntnisse seien durch die geistigen Sinnesorgane möglich. Nach Rudolf Steiner soll der Geheimschüler im Laufe seiner Ausbildung in der Mysterienschule lernen wie er sich zu verhalten hat, um diese Sinnesorgane zur vollen Blüte – der Lotusblüte – zu entfalten. Dies ermögliche tief verborgene Eigenschaften an Seelen wahrzunehmen, sowie in weiterer Folge den Ätherkörper zu kontrollieren und damit die Freiheit vom physischen Körper zu erlangen.
Wenn der Mensch seine Ausbildung in Bezug auf Gefühle; Gedanken und Stimmungen so durchmacht, wie dies in den Kapiteln über Vorbereitung, Erleuchtung und Einweihung beschrieben worden ist, so bewirkt er in seiner Seele und in seinem Geist eine ähnliche Gliederung, wie sie die Natur in seinem physischen Leibe bewirkt hat. Vor dieser Ausbildung sind Seele und Geist ungegliederte Massen. Der Hellseher nimmt sie wahr als ineinandergreifende, spiralige Nebelwirbel, die vorzugsweise wie rötliche und rötlich braune oder auch rötlich gelbe Farben matt glimmend empfunden werden; nach der Ausbildung beginnen sie wie die gelblich grünen, grünlich blauen Farben geistig zu erglänzen und zeigen einen regelmäßigen Bau. Der Mensch gelangt zu solcher Regelmäßigkeit und damit zu höheren Erkenntnissen, wenn er in seine Gefühle, Gedanken und Stimmungen solche Ordnung bringt, wie sie die Natur in seine körperlichen Verrichtungen gebracht hat, so dass er sehen, hören, verdauen, atmen, sprechen und so weiter kann. Mit der Seele atmen und sehen und so weiter, mit dem Geiste hören und sprechen und so weiter lernt der Geheimschüler allmählich.
Es sollen hier nur noch einige praktische Gesichtspunkte genauer ausgeführt werden, die zur höheren Seelen- und Geisteserziehung gehören. Es sind solche, die im Grunde jeder, ohne auf andere Regeln Rücksicht zu nehmen, befolgen kann und durch die er in der Geheimwissenschaft eine Strecke weit gelangt.
Eine besondere Ausbildung muss man in der Geduld anstreben. Jede Regung der Ungeduld wirkt lähmend, ja ertötend auf die im Menschen schlummernden höheren Fähigkeiten. Man soll nicht verlangen, dass sich von heute auf morgen unermessliche Einblicke in die höheren Welten eröffnen. Denn dann kommen sie in der Regel ganz gewiss nicht; Zufriedenheit mit dem Geringsten, das man erreicht, Ruhe und Gelassenheit sollen sich der Seele immer mehr bemächtigen. Es ist ja begreiflich, dass der Lernende ungeduldig die Ergebnisse erwartet. Dennoch erlangt er nichts, solange er diese Ungeduld nicht bemeistert. Es nützt auch nichts, wenn man diese Ungeduld nur in gewöhnlichem Sinne des Wortes bekämpft. Dann wird sie nur um so stärker. Man täuscht sich dann über sie hinweg, und in den Tiefen der Seele sitzt sie nur um so stärker. Nur wenn man sich einem ganz bestimmten Gedanken immer wieder hingibt, ihn ganz sich zu eigen macht, erreicht man etwas. Dieser Gedanke ist: “Ich muss zwar alles tun zu meiner Seelen- und Geistesausbildung; aber ich werde ganz ruhig warten, bis ich von höheren Mächten für würdig befunden werde zu bestimmter Erleuchtung.” Wird dieser Gedanke im Menschen so mächtig, dass er zur Charakteranlage sich gestaltet, dann ist man auf dem rechten Wege. Schon im Äußerlichen prägt sich dann diese Charakteranlage aus.
Der Blick des Auges wird ruhig, die Bewegungen sicher, die Entschlüsse bestimmt, und alles, was man Nervosität nennt, weicht allmählich von dem Menschen. Scheinbar unbedeutende, kleine Regeln kommen dabei in Betracht. Zum Beispiel es fügt uns jemand eine Beleidigung zu. Vor unserer Geheimerziehung wenden wir unser Gefühl gegen den Beleidiger. Ärger wallt in unserem Inneren auf. In dem Geheimschüler aber steigt sofort bei einer solchen Gelegenheit der Gedanke auf: “Eine solche Beleidigung ändert nichts an meinem Werte”; und er tut dann, was gegen die Beleidigung zu unternehmen ist, mit Ruhe und Gelassenheit, nicht aus dem Ärger heraus. Es kommt natürlich nicht darauf an, etwa jede Beleidigung einfach hinzunehmen, sondern darauf, dass man so ruhig und sicher in der Ahndung einer Beleidigung der eigenen Person gegenüber ist, wie man wäre, wenn die Beleidigung einem anderen zugefügt worden wäre, bei dem man das Recht hat, sie zu ahnden. Immer muss berücksichtigt werden, dass sich die Geheimschulung nicht in groben äußeren Vorgängen, sondern in feinen, stillen Umwandlungen des Gefühls- und Gedankenlebens vollzieht.
Geduld wirkt anziehend auf die Schätze des höheren Wissens. Ungeduld wirkt auf sie abstoßend. In Hast und Unruhe kann nichts auf den höheren Gebieten des Daseins erlangt werden. Vor allen Dingen müssen Verlangen und Begierde schweigen. Das sind Eigenschaften der Seele, vor denen sich alles höhere Wissen scheu zurückzieht. So wertvoll auch alle höhere Erkenntnis ist: man darf sie nicht verlangen, wenn sie zu uns kommen soll. Wer sie haben will um seiner selbst willen, der erlangt sie nie. Und das erfordert vor allem, dass man in tiefster Seele wahr gegen sich selbst sei. Man darf sich in nichts über sich selbst täuschen. Man muss seinen eigenen Fehlern, Schwächen und Untauglichkeiten mit innerer Wahrhaftigkeit ins Antlitz schauen. In dem Augenblicke, wo du irgendeine deiner Schwächen vor dir selbst entschuldigst, hast du dir einen Stein hingelegt auf den Weg, der dich aufwärts führen soll. Solche Steine kannst du nur durch Selbstaufklärung über dich beseitigen.
Es gibt nur einen Weg, seine Fehler und Schwächen abzulegen, und der ist: sie richtig zu erkennen. Alles schlummert in der Menschenseele und kann erweckt werden. Auch seinen Verstand und seine Vernunft kann der Mensch verbessern, wenn er sich in Ruhe und Gelassenheit darüber aufklärt, warum er in dieser Beziehung schwach ist. Solche Selbsterkenntnis ist natürlich schwierig, denn die Versuchung zur Täuschung über sich selbst ist eine unermesslich große. Wer sich an Wahrheit gegen sich selbst gewöhnt, öffnet sich die Pforten zu höherer Einsicht.
Schwinden muss beim Geheimschüler eine jegliche Neugierde. Er muss sich so viel wie möglich das Fragen abgewöhnen über Dinge, die er nur zur Befriedigung seines persönlichen Wissensdranges wissen will. Nur das soll er fragen, was ihm zur Vervollkommnung seiner Wesenheit im Dienste der Entwicklung dienen kann. Dabei soll in ihm aber die Freude, die Hingabe an das Wissen in keiner Weise gelähmt werden. Auf alles, was zu solchem Ziele dient, soll er andächtig hinhorchen und jede Gelegenheit zu solcher Andacht aufsuchen.
Insbesondere ist zur Geheimausbildung eine Erziehung des Wunschlebens notwendig. Man soll nicht etwa wunschlos werden. Denn alles, was wir erreichen sollen, sollen wir ja auch wünschen. Und ein Wunsch wird immer in Erfüllung gehen, wenn hinter ihm eine ganz besondere Kraft steht. Diese Kraft kommt aus der richtigen Erkenntnis. “In keiner Art zu wünschen, bevor man das Richtige auf einem Gebiete erkannt hat”, das ist eine der goldenen Regeln für den Geheimschüler. Der Weise lernt zuerst die Gesetze der Welt kennen, dann werden seine Wünsche zu Kräften, welche sich verwirklichen. Ein Beispiel, das deutlich wirkt, soll hier angeführt werden. Gewiss wünschen viele, aus eigener Anschauung über ihr Leben vor ihrer Geburt etwas zu erfahren. Solcher Wunsch ist ganz zwecklos und ergebnislos, solange der Betreffende sich nicht die Erkenntnis der Gesetze durch geisteswissenschaftliches Studium angeeignet hat und zwar in ihrem feinsten, intimsten Charakter von dem Wesen des Ewigen. Hat er sich aber diese Erkenntnis wirklich erworben, und will er dann weiterkommen, so wird er es durch seinen veredelten, geläuterten Wunsch.
Es nützt auch nichts, zu sagen: Ja, ich will ja gerade mein vorhergehendes Leben übersehen und zu dem Zwecke eben lernen. Man muss vielmehr imstande sein, diesen Wunsch ganz fallenzulassen, ganz von sich auszuschalten, und zunächst ganz ohne diese Absicht lernen. Man muss die Freude, die Hingebung an dem Gelernten entwickeln ohne die genannte Absicht. Denn nur dadurch lernt man zugleich den entsprechenden Wunsch so zu haben, dass er seine Erfüllung nach sich zieht.
Wenn ich zornig bin oder mich ärgere, so richte ich einen Wall in der Seelenwelt um mich auf, und die Kräfte können nicht an mich herantreten, welche meine seelischen Augen entwickeln sollen. Ärgert mich zum Beispiel ein Mensch, so schickt er einen seelischen Strom in die Seelenwelt. Ich kann diesen Strom so lange nicht sehen, als ich noch fähig bin, mich zu ärgern. Mein Ärger verdeckt ihn mir. Nun darf ich auch nicht glauben, dass ich sofort eine seelische (astralische) Erscheinung haben werde, wenn ich mich nicht mehr ärgere. Denn dazu ist notwendig, dass sich erst in mir ein seelisches Auge entwickele. Aber die Anlage zu einem solchen Auge liegt in jedem Menschen. Es bleibt unwirksam, solange der Mensch fähig ist, sich zu ärgern. Aber es ist auch noch nicht sogleich da, wenn man ein wenig das Ärgern bekämpft hat.
Man muss vielmehr fortfahren in dieser Bekämpfung des Ärgers und in Geduld immer wieder fortfahren; dann wird man eines Tages bemerken, dass sich dieses seelische Auge entwickelt hat. Allerdings ist nicht der Ärger das einzige, was man zu solchem Ziele zu bekämpfen hat. Viele werden ungeduldig oder zweifelnd, weil sie jahrelang einige Eigenschaften der Seele bekämpft haben und das Hellsehen doch nicht eintritt. Sie haben dann eben einige Eigenschaften ausgebildet und andere um so mehr überwuchern lassen. Die Gabe des Hellsehens tritt erst dann ein, wenn alle Eigenschaften unterdrückt sind, welche die entsprechenden schlummernden Fähigkeiten nicht herauskommen lassen. Allerdings stellen sich Anfänge des Schauens (oder Hörens) schon früher ein; aber das sind zarte Pflänzchen, die leicht allem möglichen Irrtum unterworfen sind und die auch leicht absterben, wenn sie nicht sorgfältig weiter gehegt und gepflegt werden.
Zu den Eigenschaften, die zum Beispiel ebenso bekämpft werden müssen wie Zorn und Ärger, gehören Furchtsamkeit, Aberglaube und Vorurteilssucht, Eitelkeit und Ehrgeiz, Neugierde und unnötige Mitteilungssucht, das Unterschiedmachen in Bezug auf Menschen nach äußerlichen Rang-, Geschlechts-, Stammeskennzeichen und so weiter. In unserer Zeit wird man recht schwer begreifen, dass die Bekämpfung solcher Eigenschaften etwas zu tun habe mit der Erhöhung der Erkenntnisfähigkeit. Aber jeder Geheimwissenschafter weiß, dass von solchen Dingen viel mehr abhängt als von der Erweiterung der Intelligenz und von dem Anstellen künstlicher Übungen. Insbesondere kann leicht ein Missverständnis darüber entstehen, wenn manche glauben, dass man sich tollkühn machen solle, weil man furchtlos sein soll, dass man sich vor den Unterschieden der Menschen verschließen soll, weil man die Standes-, Rassen- und so weiter Vorurteile bekämpfen soll. Man lernt vielmehr erst richtig erkennen, wenn man nicht mehr in Vorurteilen befangen ist. Schon in gewöhnlichem Sinne ist es richtig, dass mich die Furcht vor einer Erscheinung hindert, sie klar zu beurteilen, dass mich ein Rassenvorurteil hindert, in eines Menschen Seele zu blicken. Diesen gewöhnlichen Sinn muss der Geheimschüler in großer Feinheit und Schärfe bei sich zur Entwicklung bringen.
Einen Stein in den Weg der Geheimerziehung wirft dem Menschen auch alles, was er sagt, ohne dass er es gründlich in seinen Gedanken geläutert hat. Und dabei muss etwas in Betracht kommen, was hier nur durch ein Beispiel erläutert werden kann. Wenn mir jemand zum Beispiel etwas sagt und ich habe darauf zu erwidern, so muss ich bemüht sein, des anderen Meinung, Gefühl, ja Vorurteil mehr zu beachten, als was ich im Augenblicke selbst zu der in Rede stehenden Sache zu sagen habe. Hiermit ist eine feine Taktausbildung angedeutet, welcher sich der Geheimschüler sorgfältig zu widmen hat. Er muss sich ein Urteil darüber aneignen, wie weit es für den anderen eine Bedeutung hat, wenn er der seinigen die eigene Meinung entgegenhält. Nicht zurückhalten soll man deshalb mit seiner Meinung. Davon kann nicht im entferntesten die Rede sein. Aber man soll so genau als nur irgend möglich auf den anderen hinhören und aus dem, was man gehört hat, die Gestalt seiner eigenen Erwiderung formen. Immer wieder steigt in einem solchen Falle in dem Geheimschüler ein Gedanke auf; und er ist auf dem rechten Wege, wenn dieser Gedanke in ihm so lebt, dass er Charakteranlage geworden ist. Dies ist der Gedanke: “Nicht darauf kommt es an, dass ich etwas anderes meine als der andere, sondern darauf, dass der andere das Richtige aus Eigenem finden wird, wenn ich etwas dazu beitrage.” Durch solche und ähnliche Gedanken überströmt den Charakter und die Handlungsweise des Geheimschülers das Gepräge der Milde, die ein Hauptmittel aller Geheimschulung ist. Härte verscheucht um dich herum die Seelengebilde, die dein seelisches Auge erwecken sollen; Milde schafft dir die Hindernisse hinweg und öffnet deine Organe.
Und mit der Milde wird sich alsbald ein anderer Zug in der Seele ausbilden: das ruhige Achten auf alle Feinheiten des seelischen Lebens in der Umgebung bei völliger Schweigsamkeit der eigenen Seelenregungen. Und hat es ein Mensch zu diesem gebracht, dann wirken die Seelenregungen seiner Umgebung auf ihn so ein, dass die eigene Seele wächst und wachsend sich gliedert, wie die Pflanze gedeiht im Sonnenlichte. Milde und Schweigsamkeit in wahrer Geduld öffnen die Seele der Seelenwelt, den Geist dem Geisterlande. “Verharre in Ruhe und Abgeschlossenheit, schließe die Sinne für das, was sie dir vor deiner Geheimschulung überliefert haben, bringe alle Gedanken zum Stillstand, die nach deinen vorherigen Gewohnheiten in dir auf- und abwogten, werde ganz still und schweigsam in deinem Innern und warte in Geduld, dann fangen höhere Welten an, deine Seelenaugen und Geistesohren auszubilden. Du darfst nicht erwarten, dass du sogleich siehst und hörst in der Seelen- und Geisterwelt. Denn was du tust, trägt nur bei, deine höheren Sinne auszubilden. Seelisch sehen und geistig hören aber wirst du erst, wenn du diese Sinne haben wirst. Hast du eine Weile so in Ruhe und Abgeschlossenheit verharrt, so gehe an deine gewohnten Tagesgeschäfte, indem du dir vorher noch tief den Gedanken eingeprägt: es wird mir einmal werden, was mir werden soll, wenn ich dazu reif bin. Und unterlasse es streng, etwas von den höheren Gewalten durch deine Willkür an dich zu ziehen.”
Das sind Anweisungen, die jeder Geheimschüler von seinem Lehrer im Beginne des Weges erhält. Beobachtet er sie, dann vervollkommnet er sich. Beobachtet er sie nicht, dann ist alles Arbeiten vergebens. Aber sie sind nur für den schwierig, der nicht Geduld und Standhaftigkeit hat. Es gibt keine anderen Hindernisse, als diejenigen sind, die sich ein jeder selbst in den Weg wirft und die auch jeder vermeiden kann, wenn er wirklich will. Das muss immer wieder betont werden, weil sich viele eine ganz falsche Vorstellung bilden über die Schwierigkeiten des Geheimpfades. Es ist in gewissem Sinne leichter, die ersten Stufen dieses Pfades zu überschreiten, als ohne Geheimschulung mit den aller alltäglichsten Schwierigkeiten des Lebens fertig zu werden. Außerdem durften hier nur solche Dinge mitgeteilt werden, die von keinerlei Art von Gefahren begleitet sind für die körperliche und seelische Gesundheit. Es gibt ja auch andere Wege, die schneller zum Ziele führen; aber mit diesen hat, was hier gemeint ist, nichts zu tun, weil sie gewisse Wirkungen auf den Menschen haben können, die ein erfahrener Geheimkundiger nicht anstrebt. Da einiges von solchen Wegen doch immer wieder in die Öffentlichkeit dringt, so muss ausdrücklich davor gewarnt werden, sie zu betreten. Aus Gründen, die nur der Eingeweihte verstehen kann, können diese Wege nie in ihrer wahren Gestalt öffentlich bekanntgegeben werden. Und die Bruchstücke, die dort und da erscheinen, können zu nichts Gedeihlichem, wohl aber zur Untergrabung von Gesundheit, Glück und Seelenfrieden führen. Wer sich nicht ganz dunklen Mächten anvertrauen will, von deren wahrem Wesen und Ursprung er nichts wissen kann, der vermeide es, sich auf solche Dinge einzulassen.
Es kann noch einiges gesagt werden über die Umgebung, in welcher die Übungen der Geheimschulung vorgenommen werden sollen. Denn darauf kommt einiges an. Doch liegt die Sache fast für jeden Menschen anders. Wer in einer Umgebung übt, die nur von selbstsüchtigen Interessen, zum Beispiel von dem modernen Kampfe ums Dasein, erfüllt ist, der muss sich bewusst sein, dass diese Interessen nicht ohne Einfluss bleiben auf die Ausbildung seiner seelischen Organe. Zwar sind die inneren Gesetze dieser Organe so stark, dass dieser Einfluss nicht ein allzu schädlicher werden kann. So wenig eine Lilie durch eine noch so unangemessene Umgebung zu einer Distel werden kann, so wenig kann sich das seelische Auge zu etwas anderem bilden, als wozu es bestimmt ist, auch wenn die selbstsüchtigen Interessen der modernen Städte darauf einwirken. Aber gut ist es unter allen Umständen, wenn der Geheimschüler ab und zu den stillen Frieden und die innere Würde und Anmut der Natur zu seiner Umgebung macht.
Besonders günstig liegt die Sache bei dem, der seine Geheimschulung ganz in der grünen Pflanzenwelt oder zwischen sonnigen Bergen und dem lieben Weben der Einfalt vornehmen kann. Das treibt die inneren Organe in einer Harmonie heraus, die niemals in der modernen Stadt entstehen kann. Etwas besser als der bloße Stadtmensch ist auch schon derjenige gestellt, welcher wenigstens während seiner Kindheit Tannenluft atmen, Schneegipfel schauen und das stille Treiben der Waldtiere und Insekten beobachten durfte. Keiner derjenigen aber, denen es aufgegeben ist, in der Stadt zu leben, darf es unterlassen, seinen in Bildung begriffenen Seelen- und Geistesorganen als Nahrung die inspirierten Lehren der Geistesforschung zuzuführen. Wessen Auge nicht jeden Frühling die Wälder Tag für Tag in ihrem Grün verfolgen kann, der sollte dafür seinem Herzen die erhabenen Lehren der Bhagavad-Gita, des Johannes- Evangeliums, des Thomas von Kempen und die Darstellungen der geisteswissenschaftlichen Ergebnisse zuführen. Viele Wege gibt es zum Gipfel der Einsicht; aber eine richtige Wahl ist unerlässlich.
Der Geheimkundige weiß gar manches über solche Wege zu sagen, was dem Uneingeweihten absonderlich erscheint. Es kann zum Beispiel jemand sehr weit auf dem Geheimpfade sein. Er kann sozusagen unmittelbar vor dem Öffnen der seelischen Augen und geistigen Ohren stehen; und dann hat er das Glück, eine Fahrt über das ruhige oder vielleicht auch das wildbewegte Meer zu machen, und eine Binde löst sich von seinen Seelenaugen: plötzlich wird er sehend. Ein anderer ist ebenfalls so weit, dass diese Binde sich nur zu lösen braucht; es geschieht durch einen starken Schicksalsschlag. Auf einen anderen Menschen hätte dieser Schlag wohl den Einfluss gehabt, dass er seine Kraft lähmte, seine Energie untergrübe; für den Geheimschüler wird er zum Anlass der Erleuchtung. Ein dritter harrt in Geduld aus; Jahre hindurch hat er so geharrt, ohne eine merkliche Frucht. Plötzlich in seinem ruhigen Sitzen in der stillen Kammer wird es geistig Licht um ihn, die Wände verschwinden, werden seelisch durchsichtig, und eine neue Welt breitet sich vor seinem sehend gewordenen Auge aus oder erklingt seinem hörend gewordenen Geistesohre.