Liebe und der Wille-zum-Guten
Joseph Nolen (1902)
Der amerikanische Adept und Kabbalist Joseph Nolen erläutert die Nächstenliebe als eine Form des „Wohlwollens“. Für Joseph Nolen bedeutet dies zum Wohle des Anderen zu Handeln. Im kabbalistischen Lebensbaum wird dieser Wille zum Guten durch Kether repräsentiert. Die Weisheitstradition der Kabbalah lehrt uns, dass Liebe das Erkennen der Einheit beinhaltet.
Das Wort „Liebe“ wird in unseren religiösen, esoterischen und psychologischen Büchern und Diskussionen oft als Schlüsselwort und Mandat benutzt. Nun selten besteht Klarheit über seine Bedeutung. Die „Liebe“, auf die man sich allgemein bezieht, ist eine ethische Qualität und nicht das spontane, warme, umschließende Gefühl, das zwischen Liebenden, guten Freunden und in der Familie oder bei geistigen Verwandten empfunden wird. Es ist auch nicht der Amor Dei aus der Mystik. Und doch, wenn du ein religiöser Mensch bist, wird dir der moralische Imperativ aufgedrückt, „jeden zu lieben“, besonders jene, die normalerweise als nicht liebenswert angesehen werden. Seinem Feind „Liebe“ zu senden, wird als eine sehr lohnende spirituelle Übung angesehen.
„Feind“ ist ein fast archaischer Begriff, der heute wenig verwendet wird, es sei denn rhetorisch. Es ist eine kategorische Zuschreibung für Jeden, der unsere Wünsche durchkreuzt, uns kritisiert, uns ungerecht behandelt hat oder uns einfach nicht mag. In den Gesellschaften der Naturvölker werden „Feinde“ sehr ernst genommen, und viel psychische Energie wird darauf verwendet, mit ihnen fertig zu werden. Nicht gemocht zu werden, kommt einem Verfluchen der Persönlichkeit gleich, und oft ist der Versuch, jemandem, der uns nicht mag, „Liebe zu senden“, nur ein Versuch, diese inakzeptable Meinung zu ändern. Schon der Begriff „Feind“ wird nur von der Persönlichkeit benutzt, da das Selbst eine derartige Trennung nicht kennt.
Es ist schwierig, „Liebe“ so als ethische Qualität zu definieren, wie sie sich ausdrückt. Manchmal drückt sie sich aus, indem man die andere Wange hinhält, aber zu anderen Zeiten wird sie durch den Gebrauch des Schwerts ausgedrückt. Der Schlüssel heißt: „Welche Handlung wird dem spirituellen Wohlergehen und dem Wachstum des Anderen am besten dienen?“ Nur sehr selten bekommen wir die Gelegenheit, philosophisch zu entscheiden, welchen Weg wir in unserer Interaktion mit anderen gehen. Unsere Handlungen werden gewöhnlich sofort durch die normalerweise ausgedrückten Muster in unserem Unterbewusstsein entschieden.
Liebe scheint ein Wort zu sein, über das öfter gesprochen wird, als dass es in Gefühlen ausgedrückt wird und sich in Taten widerspiegelt. Es muss mit den Menschen, die oft über Liebe reden, nicht so sein, wie mit der Biene in Ramakrishnas Parabel: Solange die Biene summt, sucht sie den Nektar; aber wenn sie ihn gefunden hat, hört das Summen auf. Wenn Liebe erfahren wird, herrscht Ruhe, Gegenwärtigkeit, Frieden.
Viel Heuchelei wird ausgedrückt, wenn man versucht, liebevoll zu erscheinen, ohne es zu sein! Viel Spannung wird vom geistig strebenden Wesen genommen, wenn wir erkennen, dass die Spiegelung des Willen-zum-Guten unseres Schöpfers zu allen Zeiten möglich und unsere eigene spirituelle Verantwortung ist. Ein wenig verstandener Aphorismus hinsichtlich unseres Ausdruck von Chesed ist: „Gnade ist so beschaffen, dass sie nicht beansprucht.“ Das heißt, man sollte ihr völlig freien Ausdruck gewähren.
Viel von der religiösen Verwirrung über den Ausdruck von „Liebe“ entstammt einer König-James-Übersetzung eines aramäischen Wortes in Paulus‘ erstem Brief an die Korinther. Das wird weltweit sehr oft in den Gebeten zitiert „Liebe verzeiht alles, usw.“. Das ursprüngliche Wort war „Wohltätigkeit“ nicht Liebe! Diese Unterscheidung wurde in späteren englischen Übersetzungen nicht aufrecht erhalten. Das Wort „Wohltätigkeit“ ist zurzeit etwas außer Mode und beinhaltet die Nebenbedeutung, dass etwas an einen Menschen von geringerem sozialem Status gegeben wird, und der Empfänger der Wohltätigkeit zu sein, ist irgendwie peinlich. Wohltätigkeit definiert genau, was fehlt und was für die Interaktion der Menschen und der Nationen miteinander so dringend benötigt wird. Es ist der „Balsam von Gilead“, der Vermittler der allumfassenden Heilung, wo alle Unterschiede aufgelöst werden können.
Das spirituelle Niveau, das wir in unserer Interaktion mit anderen immer wieder ausdrücken müssen, ist der Wille-zum-Guten des Kosmischen Vaters, Kether. Wir können diesen ethischen Aspekt von Kether widerspiegeln, welcher in der Goldenen Regel perfekt dargestellt ist, auch für jene, die uns wehtun wollen. Liebe ist das höchste Niveau des Willen-zum-Guten, und auf unserer gegenwärtigen evolutionären Stufe drückt sie sich durch uns nach eigenem Willen aus. Wir müssen uns nicht anstrengen, um das auszudrücken, was in unseren Leben von allein kommt, es geht ohne unseren persönlichen Entschluss. Dies zu erkennen, ist eine große Befreiung.
Wir können nicht jeden „lieben“, aber wir können jedem „Wohl wollen“.
Die kabbalistische Gematria gibt uns eine bedeutende Einsicht in den involutionären Prozess, durch den die Liebe in unseren Beziehungen zu Anderen erscheint. Das hebräische Wort für Liebe ist Ahehba, und das Wort für Einheit ist Echad. Die Summe der Buchstaben in jedem Wort ist dreizehn, eine Zahl von großer Bedeutung in der Weisheit der Kabbalah. Diese numerische Identität legt fest, und nicht nur nahe, dass wir nur dann lieben, wenn wir uns mit den anderen als Einheit empfinden. Die Umkehrung ist auch richtig. Der Pfad der Rückkehr ist eine Reise in das größere Erkennen unserer Einheit mit dem Leben und daher auch der Liebe dieses Lebens. Der große indianische Adept, Ramakrishna, sagte, wenn jemand an den Punkt gelangt, wo er die Welt vor Schmerzen schreien hört, wird als Antwort die Liebe fließen. Wir nennen diese Liebe Mitgefühl, den besonderen Ausdruck des Tiphareth-Zentrums.