Das Schließen der Pforte zum Mutterschoß
Diejenigen, die ganz wenig spirituelle Übung haben und in der Meditation unerfahren sind, werden dies nicht begreifen und daher in Verwirrung geraten und durch die Pforte des Schoßes gehen müssen. Deshalb ist die Unterweisung, um die Pforte des Schoßes zu schließen, so bedeutsam, und so rufe man den Toten bei seinem Namen und spreche:
Sohn der Edlen, wenn du vorher die Wahrheit nicht erfasst hast, dann wird es dir scheinen, als ob du nach oben gingst, geradeaus oder kopfüber nach unten gingst. Zu dieser Zeit meditiere über den Großen Mitleidsvollen, als wäre er du selbst. Vergegenwärtige dir dies! Dann werden dir Erscheinungen aufgehen, die schon vorher beschrieben wurden: heftige Stürme, Schnee, Hagel, Finsternis und das Gefühl, als ob viele Menschen hinter dir herjagten und du liefest davon.
Die keinen Verdienst haben, denen wird es scheinen, als ob sie an einen elenden Ort liefen. Die Verdienst haben, denen wird es scheinen, als ob sie an einem glücklichen Ort ankämen. Eben zu dieser Zeit, o Sohn der Edlen, da werden dir alle Anzeichen des Kontinents und des Ortes, wo du geboren werden wirst, erscheinen. Da es für diese Zeit viele Unterweisungen von äußerst tiefem Inhalt gibt, höre, ohne zerstreut zu sein, zu! Auch wenn du – obwohl ich dir vorher zur Einsicht verhelfen wollte – diese Unterweisung nicht begriffen hast, so wirst du sie trotz dieser ganz geringen spirituellen Übung jetzt gewiss begreifen, so höre also!
Es ist wichtig, dass du nun gut achtgibst, auf welche Weise die Pforte des Schoßes zu schließen ist. Es gibt zwei Methoden: Entweder man hindert das Lebewesen daran, in die Pforte des Schoßes einzugehen, oder man schließt diesen, den der Tote betreten will.
Nun die Unterweisung, um das Lebewesen, das die Pforte des Schoßes betreten will, davon abzuhalten:
Sohn der Edlen, N. N., bringe den ganz klar zur Entfaltung, den du zum Yi-dam gemacht hast, der ohne substantielles Sein ist, obwohl er dir erscheint – wie eine Halluzination und wie das Spiegelbild des Mondes im Wasser.
Wenn du keinen bestimmten Yi-dam hast, dann meditiere ganz klar in dem Gedanken: Dies ist die Natur des Herrn des Großen Mitleids. Danach lasse den Yi-dam von seinen äußeren Umrissen her schwinden und betrachte das überhaupt nicht wahrnehmbare Urlicht als leer. Dies ist von tiefer Bedeutung. Da es heißt, damit trete man nicht in den Schoß ein, meditiere darüber!
Wenn man es jedoch dadurch nicht verhindern kann und man dabei ist, in den Schoß einzutreten, dann gibt es die tiefgründige Unterweisung, um die Pforte des Schoßes, in die man eintreten soll, zu schließen.
So höre! Sprich mir nach, was in den Grundlegenden Worten für den Zwischenzustand steht: Wehe! Hier wandere ich nun im Zwischenzustand des Werdens. Da ich meinen Geist auf einen Punkt gesammelt und konzentriert habe, dehne ich voll Eifer die Wirkung meiner guten Taten aus. Da die Pforte des Schoßes verschlossen ist, sei gewärtig, dass du umkehren musst. Dies ist die Zeit, da Herzensstärke und reines Vertrauen vonnöten sind. Gib die Eifersucht auf und meditiere über deinen Lama, wie er vereint mit der göttlichen Mutter ist.
Da man diese Worte klar formuliert, ruft man sie dem Toten ins Gedächtnis. Es ist sehr bedeutsam, den Sinn dieser Worte zu betrachten und danach zu handeln.
Dies ist ihr Sinn: Hier wandere ich nun im Zwischenzustand des Werdens!
Du bist nun einer, der im Zwischenzustand des Werdens wandern muss. Die Anzeichen dafür sind, dass du das Spiegelbild deines Gesichtes nicht sehen kannst, sobald du ins Wasser schaust, und dass dein Körper ohne Schatten ist. Dies ist eben das Zeichen, dass du ohne einen materiellen Körper von Fleisch und Blut im Zwischenzustand des Werdens als Geist-Wesen wandern musst. Jetzt musst du ganz gesammelt und ohne Zerstreuung deinen Geist festhalten. Jetzt ist das völlige Gesammeltsein allein von größter Wichtigkeit. So wie man ein Pferd mit dem Zügel lenkt, so willig muss dein Geist nun sein.
Da nun das geschehen wird, worauf du dich konzentrierst, darfst du keinen Gedanken an üble Taten aufsteigen lassen. Erinnere dich vielmehr der Religion, der Unterweisung, der Weihen und der Überlieferungen solcher Texte wie „Die Befreiung durch Hören im Zwischenzustand“ usw. Mit Eifer dehne die Auswirkung deiner guten Taten aus. Das ist wichtig, vergiss es nicht, sei nicht zerstreut! Dies ist nun der Scheidepunkt, da es aufwärts oder abwärts geht. Fällst du in Nachlässigkeit, so ist jetzt die Zeit, da du ganz sicher ins Leid gerätst. Hältst du aber in völliger Sammlung aus, so ist jetzt die Zeit, da du ganz sicher ins Glück gehst. Halte deinen Geist in völliger Sammlung! Dehne voll Eifer die Ausstrahlung deiner guten Taten aus. Denn es heißt: Die Zeit zum Schließen der Pforte des Schoßes ist gekommen! Da die Pforte des Schoßes geschlossen ist, vergegenwärtige dir doch, dass du nun umkehrst. Dies ist die Zeit der Herzensstärke und des reinen Vertrauens.
Und diese Zeit ist jetzt gekommen. Zuerst gilt es, die Pforte des Schoßes zu schließen. Ferner gibt es fünf Aspekte der Methode des Schließens, deshalb präge sie dir gut ein!
Sohn der Edlen, zu dieser Zeit werden dir Erscheinungen aufsteigen, als ob sich Männer und Frauen in Leidenschaft vereinten. Da du sie erblickst, tritt nicht zwischen sie, sondern vergegenwärtige dir die Unterweisung und meditiere über diese männlichen und weiblichen Paare als deinen Lama und die heilige Mutter. So verehre sie und bringe ihnen im Geiste Opfer dar! Nur indem du dein Denken ganz darauf sammelst, sie mit tiefer Hingabe und Inbrunst um Unterweisung zu bitten, wirst du die Pforte des Schoßes verschließen. Wenn du sie dadurch jedoch nicht verschließen kannst und du dabei bist, in den Schoß einzutreten, dann meditiere über deinen Lama und die heilige Mutter, deinen Yi-dam und was sonst angängig ist, als den Großen Mitleidsvollen, deinen wahren] Yi-dam und opfere ihm im Geiste. Voll Inbrunst denke, dass du sie bittest, dich zur Vollendung zu führen. Damit wird die Pforte des Schoßes verschlossen.
Wenn du sie damit aber nicht verschließen konntest und dabei bist, in den Schoß einzutreten, dann zeige ich dir als drittes die Methode, Begehren und Hass abzuweisen.
Es gibt vier Arten von Geburt:
1. die Geburt aus dem Ei;
2. die Geburt aus dem Schoß;
3. die Geburt aufgrund eines Wunders;
4. die Geburt aus Hitze und Feuchtigkeit.
Unter ihnen stimmen die Geburt aus dem Ei und die aus dem Mutterschoß in ihren Merkmalen überein. Wie oben gesagt, wirst du Männer und Frauen in leidenschaftlicher Vereinigung erblicken. Zu dieser Zeit wirst du kraft deines Begehrens und deines Hasses in den Schoß eingehen, und du kannst als Pferd, Vogel, Hund, Mensch oder Ähnliches geboren werden.
Sollst du als Mann wiedergeboren werden, dann wirst du dir selbst als männlich erscheinen und gegenüber deinem Vater heftige Ablehnung empfinden, und es dünkt dich, als ob du gegenüber deiner Mutter Eifersucht und Leidenschaft empfändest.
Sollst du aber als Frau geboren werden, dann wirst du dir selbst als weiblich erscheinen, und du wirst Neid und Eifersucht gegen deine Mutter empfinden, und für deinen Vater wirst du Begehren und Leidenschaft fühlen.
Unter diesen Begleitumständen trittst du in den Mutterschoß ein, und just, da sich die weiße und rote Essenz vereinen, da erfährst du die inständige Freude des Werdens.
In diesem Zustand fällt dein Bewusstsein in Ohnmacht; als stehende, erst dünnflüssige, dann dickflüssige Substanz reift der Körper, und wenn er den Mutterschoß verlässt, die Augen öffnet, dann findest du dich als alleinstehendes Junges.
Warst du zuerst ein Mensch, so bist du nun ein Hund geworden und leidest in einem Hundezwinger oder – in entsprechender Weise – in einem Schweinestall oder in einem Ameisenhaufen oder in einem Fliegennest. Oder du wirst als Kalb oder Zicklein oder Lämmchen geboren. Einen Weg zurück gibt es nicht.
In Stumpfheit und Nichtwissen wirst du verschiedenartigstes Leid erdulden müssen. So wirst du unter den sechs Daseinsbereichen wie Höllenwesen und Hungergeister umherirren und unendliches Leid erdulden müssen. Keine Kraft ist größer als diese, keine Furcht und kein Schrecken ist größer als dieser. Wehe, wie furchtbar! Wehe, wehe! Die ohne Unterweisung eines Lama sind, werden damit in den gähnenden Abgrund der Wandelwelt fallen, und sie werden unentwegt von unerträglichem Leid gequält werden.
So präge dir meine Unterweisung ein! Ich werde dir eine Unterweisung lehren, so dass du sagen kannst: Da ich Begehren und Hass aufgegeben habe, schließe ich die Pforte des Schoßes!
Höre also und präge es dir ein!
Ferner, da du die Pforte des Schoßes geschlossen hast, vergegenwärtige dir, dass du nun umkehren musst! Jetzt ist die Zeit, da Herzensstärke und reiner Glaube nottut. Gib die Eifersucht auf und meditiere über den Lama als vereint mit der göttlichen Mutter!
Da es so heißt, wirst du wie vorher die Mutter begehren und den Vater hassen, wenn du als ein männliches Wesen geboren wirst. Und wenn du als ein weibliches Wesen geboren wirst, so wirst du den Vater begehren und die Mutter hassen. Es wird dir sein, als ob du Eifersucht empfändest.
Für diese Zeit gibt es eine tiefe Unterweisung!
Sohn der Edlen, zu der Zeit, da dir in dieser Weise Hass und Begehren entsteht, meditiere so: Wehe, die Lebewesen, die wie ich durch solch schlechte Taten schon früher in der Wandelwelt umherirrten, irren auch nun darin umher, da sie Begehrlichkeit und Hass empfinden.
Wenn man noch in dieser Weise begehrt und hasst, dann wird man ohne Ende in der Wandelwelt umherirren müssen, und es besteht die Gefahr, für lange Zeit in dem Ozean des Leides zu versinken. Deshalb soll man von Grund auf weder begehren noch hassen.
Wehe! Niemals will ich fortan begehren oder hassen, dies präge man voll Sammlung fest seinem Geist ein. In den Tantras heißt es, dass damit die Pforte des Schoßes verschlossen wird.
O Sohn der Edlen, sei nicht zerstreut, nimm deinen Geist in voller Konzentration zusammen! Wenn du bisher die Pforte des Schoßes nicht verschließen konntest und dabei bist, in den Schoß einzutreten, dann musst du die Pforte des Schoßes mit dieser Unterweisung schließen, dass nämlich in Wahrheit nichts ein Sein hat nichts ist, sondern eine Halluzination ist.
In dieser Art meditiere:
Wehe, Vater und Mutter, Regengüsse, Sturmböen, das Heulen, all diese Erscheinungen des Schreckens und der Furcht, die aufgehen, all diese Phänomene haben kein substantielles Sein, sondern gleichen einer Halluzination. Obwohl man sie wahrnimmt, kommt ihnen in Wahrheit kein Sein zu. Alle Phänomene sind in Wahrheit ohne Sein und nur ein Trug, eine optische Täuschung, sie sind nicht ewig oder beständig. Warum begehrt man sie? Warum hat man Furcht und Angst vor ihnen?
Das Nicht-Existente sehe ich als existent, und doch ist alles nur eine Erscheinung des eigenen Geistes. Der Geist selbst ist eben wie eine Halluzination, seit Anfang ohne Sein. Wie sollte es da von außen herkommen? Da ich früher dergleichen nicht erkannt habe, hielt ich das Nichtexistente für existent, das Nichtwahre für wahr. Da ich das, was einer Halluzination gleicht, für wahr ansah, bin ich seit wie langer Zeit doch in der Wandelwelt umhergeirrt. Und wenn ich immer noch nicht die Wahrheit als Halluzination erkenne, dann muss ich weiterhin in der Wandelwelt umherirren, und gewiss gerate ich in den Sumpf mancherlei Leides.
Dies alles ist wie ein Traum, eine Halluzination, ein Echo, die Stadt der Gandharven, eine Fata Morgana, ein Spiegelbild, eine optische Täuschung, das Spiegelbild des Mondes im Wasser. Nicht für einen Augenblick kommt ihnen in Wahrheit ein Sein zu.
Gewiss, erfasst man mit Sammlung, dass die Phänomene in Wahrheit nicht seiend sind, sondern Trug, dann wird das Festhalten an einem Sein aufgelöst. Prägt man dieses seinem Geist tief ein, dann wird das Festhalten an einem Ich beendet.
Wenn man es so von ganzem Herzen als Trug erkennt, wird die Pforte des Schoßes sicher verschlossen. Wird aber das Festhalten am Ich nicht aufgelöst, obwohl man so getan hat, und ist die Pforte des Schoßes nicht verschlossen worden und ist man dabei, in den Schoß einzutreten, dann gibt es hierfür doch noch eine tiefe Unterweisung:
Sohn der Edlen, wenn du die Pforte des Schoßes nicht verschließen konntest, obwohl du so getan hast, dann sollst du als fünftes über das Licht meditieren und damit die Pforte des Schoßes schließen.
Die Art und Weise dieser Meditation ist folgendermaßen auszuführen: Alle Phänomene bestehen im Geist. Dieser Geist ist frei vom Werden und Vergehen, er ist die Leere.
Indem man so denkt, lasse man den Geist unbeeinflusst. So wie das Wasser im Wasser ruht, so ruhe der Geist in sich selbst, allein auf sein Wesen ausgerichtet, gelöst in seinem Dasein, entspannt, gelassen. Da der Geist unbeeinflusst, gelöst verharrt, wird ganz bestimm und sicher der Zugang zur Pforte des Schoßes bei allen vier Arten der Geburt verschlossen. So meditiere immer wieder, solange die Pforte des Schoßes noch nicht verschlossen ist.