Die Alchemie der Weisen von Bit Nur
Franz Sättler (Dr. Musallam) (1922)
Im linken Hügel des Tempel- und Klostergebäudes von Bit Nur befindet sich im Obergeschoß das aus mehreren Kabinen bestehende chemische Laboratorium der Chakimim. Während meines ersten Aufenthaltes daselbst lernte ich es nur flüchtig kennen, ebenso wie das Archiv, das Museum, die Bibliothek und das astrologische Observatorium
Aber bei meinem zweiten Aufenthalt, nachdem ich selbst unter dem Namen Musallam Aufnahme in den Orden der Chakimim gefunden, weihte mich Arva Manas, der Chakim Hachkimim, mein Freund und Gönner, persönlich in alle Geheimnisse des uralten Heiligtums ein.
Jahre sind inzwischen darüber hingegangen, aber ich erinnere mich noch, wie wenn es gestern gewesen wäre, des Gespräches, das unserem Besuch im Laboratorium voranging. Wir unterhielten uns über das ,,kommende Reich”, d.h. über die nach Ablauf des Äons des „Anderen” um die Jahrtausendwende bevorstehende Wiederkehr des goldenen Zeitalters und die äußeren Veränderungen, welche diese neue Glücksperiode der Menschheit einleiten würden.
„Wolle mich, bitte, mein Freund, nicht missverstehen”, sagte Arya Ananas zu mir, während wir, auf dem Balkon eines seiner Gemächer sitzend, unsere Wasserpfeifen rauchend und ab und zu von dem bereitgestellten Scharbit kostend, den herrlichen Ausblick über die vor uns liegende weite Landschaft genossen. „Wolle mich ja nicht missverstehen! Nicht etwa so, als ob über Nacht vom 31. Dezember 2000 auf den 1. Januar 2001 plötzlich, wie durch einen Zauberschlag, die ganze Welt verwandelt würde und die Menschen, die noch als klägliche, halbtierische Wesen, mit Leidenschaften, Lastern und Krankheiten behaftet und von Jammer und Elend darniedergedrückt am Abend vorher zu Bette gegangen, an jenem Morgen nun plötzlich als selige, engelhafte Wesen in einem Paradiese erwachen würden. Solches, mein Freund, wäre eine gänzlich unrichtige Vorstellung. Nein, nein, die großartige Veränderung, diese letzte gewaltige Revolution, wird sich in ganz anderer Weise abspielen. Sie wird bereits Jahrzehnte vor jenem Zeitpunkte einsetzen und sich durch mehrere Jahrhunderte darüber hinaus erstrecken. Ja, sie hat eigentlich bereits begonnen und dem Kundigen können die ,Zeichen der Zeit’, welche sie charakterisieren, nicht verborgen sein. Viele große Kriege haben auf der Erde Verhältnisse geschaffen, die unmöglich von Dauer sein können, die den Keim zu neuen, gewaltigen Ereignissen in sich tragen. Die nächsten Jahrzehnte werden nun eine Hänfling solcher Ereignisse mit sich bringen: neue, kleinere Kriege und Einzelrevolutionen, die trotzdem die Völker von Grund aus aufrühren und gegen das Ende des 20. Jahrhunderts zur Bildung eines Riesenreiches in Europa führen werden.”
„Ein Riesenreich in Europa?” unterbrach ich ihn hier neugierig. „Und welches Volk wird das herrschende sein? Welche Staatsform? Republik oder Monarchie?”
„Das letztere”, erwiderte Arya Manas, meine erste Frage geflissentlich überhörend. „Ein solches Reich kann nur eine Monarchie sein.”
„Und wer ist der Monarch? Welchem Volke, welcher Dynastie wird er entstammen?” beharrte ich.
„Sein Name wird sein: Weltfriede”, lautete die geheimnisvolle Auskunft, ,,und sein Reich wird sich vom Ural bis zu den Säulen des Herkules erstrecken. Das Volk, dem er angehört, ist eines, das heute, von der Höhe seiner Weltmachtstellung gestürzt, in schwerem inneren Siechtum darniederliegt, und seine Dynastie eine fast ausgerottete, grausam zu Boden getretene. Mehr kann und darf ich dir aber, mein Freund, zur Stunde darüber nicht offenbaren. Wenn du erst gelernt haben wirst, in den Sternen zu lesen, dann wird sich dir auch dieses Geheimnis von selber enthüllen.”
Ich suchte, so gut ich es vermochte, meine Enttäuschung zu verbergen. Was hätte ich in jenem Augenblick darum gegeben, nur einen Zipfel des Schleiers lüften und mich über das Schicksal meines eigenen Volkes unterrichten zu dürfen! Heute, wo ich dies niederschreibe, ist meine Neugier längst befriedigt. Ich habe inzwischen gelernt in den Sternen zu lesen, deren goldleuchtende Himmelsschrift nimmer trügt, aber wenn nun der geneigte Leser dieselben Fragen an mich richtet, mit denen ich damals Arya Manas bestürmte, so bin ich gezwungen, ihm dieselbe Antwort darauf zu erteilen: zur Stunde darf darüber noch nichts geoffenbart werden!
„Was ich dir aber nicht vorzuenthalten brauche”, fuhr mein edler Freund nach einer Pause des Schweigens fort, „ist die Art und Weise, wie jenes Riesenreich an der Pforte des neuen Zeitalters zustande kommen wird.”
„Wie anders”, warf ich ein, „als wie alle großen Reiche bisher? Durch grausame Kriege, Menschenmord und Blutvergießen.”
Aber Arya Manas lächelte. „Das wäre ein schlimmer Weg zu einem Friedensreich. Freilich, gänzlich ohne Krieg, gänzlich ohne Blutvergießen wird es dabei auch nicht ablaufen, aber die Hauptwaffe wird diesmal doch eine ganz andere sein. Nicht großkalibrige und weittragende Geschütze, nicht Feuer und giftige Gase, nicht Panzerkreuzer, Unterseeboote, Flugzeuge und lenkbare Luftschiffe werden in diesem Fall den Ausschlag geben, sondern, der Esel Philipps von Mazedonien.”
„Der Esel Philipps von Mazedonien!”
Ich hatte die Anspielung augenblicklich erfasst. Denjenigen meiner Leser aber, die in der Geschichte weniger bewandert sind, diene zur Aufklärung, dass jener König von Mazedonien, der Vater Alexanders des Großen, einmal den Allspruch getan, ein mit Gold beladener Esel vermöge die höchsten Festungsmauern zu übersteigen.
„Jawohl”, fuhr Arya Manas fort, „der mit Gold beladene Esel des Königs Philipp. Dieser wird sich, wenn auch nicht als der beste General, so doch als der beste Diplomat erweisen.”
„Aber mich dünkt”, wandte ich ein, „da müsste es sich schon, um im Bilde zu bleiben, nicht nur um einen goldbeladenen Esel, überhaupt nicht um Esel, sondern womöglich um eine ganze, lange, goldbeladene Kamel- oder, noch besser, Elefantenkarawane handeln. Denn heute kommt es nicht mehr, wir zu Philipps Zeiten, darauf an, nur ein paar Städte durch Bestechung zu gewinnen, sondern große und zum Teil selbst reiche Staaten.”
„Halt, nein!” fiel hier Arya Manas wieder ein. ,,Nicht Staaten, sondern Staatsmänner! Staaten sind bloße Begriffe, aber Staatsmänner sind Menschen, und Menschen sind für Gold immer zu haben. Der Preis spielt dabei keine Rolle.”
Ich warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Ich weiß doch nicht. Um alle die verschiedenen, zum Teil einander zuwiderlaufenden politischen Interessen, die durch die Staatsmänner der Gegenwart vertreten werden, aus der Welt zu schaffen. Ich weiß nicht, ob dazu alles Gold, das heute auf Erden vorhanden ist, gemünzt oder ungemünzt, ausreichen würde!”
„Wahrscheinlich nicht”, gab mein Gegenüber ruhig zu, nachdem er einen bedächtigen Zug aus dem Nargile getan. „Aber dann müssen wir eben noch mehr dazu schaffen, bis es genügt.”
„Das dürfte doch seine Schwierigkeiten haben. Soviel mir bekannt ist, macht die Goldgewinnung in allen Ländern, wo solches sich findet, rapide Rückschritte und wird von Jahr zu Jahr, ja von Tag zu Tag weniger lohnend, so dass sich schon bald die Betriebskosten nicht mehr decken. Aber selbst angenommen, dass der derzeitige und durch die Ausbeute der nächsten Jahrzehnte noch zu gewinnende Goldvorrat für den gedachten Zweck ausreichen würde, wie soll es gelingen, denselben, was doch unumgänglich wäre, in einer Hand zu vereinigen.”
Hier lächelte Arya Manas abermals. „Du hast mich, lieber Freund, ein klein wenig missverstanden. Ich meinte nämlich gar nicht den Goldvorrat der Weltfinanzen und die natürliche Gewinnung dieses kostbaren Metalls.”
„Nicht? Ja, was denn sonst?”
„Nun, was zum Beispiel würdest du dazu sagen, wenn ich dir eröffne, dass wir, nämlich wir Chakimim hier im Bit Nur, bereits am Werke sind, unter Verzicht auf jenen über die ganze Erde verstreuten, verhältnismäßig geringen Goldvorrat, einen viel größeren für den künftigen Beherrscher des Friedensreiches selbst zu erzeugen?”
„Ah!”
„Und wenn ich dir ferner versichere, dass dieser unser Vorrat heute schon jenen anderen um ein Vielfaches übersteigt? Dass in den unterirdischen, aus dem Felsen gehauenen Gewölben unter dem Bit Nur bereits viele Zentner von Goldbarren aufgespeichert liegen?”
„Ah!” Meine Überraschung war zu groß, als dass ich fähig gewesen wäre, sie anders als in einsilbigen Interjektionen kund zu geben.
„Und dass wir nur”, fuhr Arya Manas in demselben eindrucksvollen Tone fort, „auf den Tag der Geburt des künftigen Friedensfürsten warten, denn er ist heute noch nicht geboren um den Getreuen seiner Dynastie, die sich jetzt im Exil befindet, die ersten ausgiebigen Propagandamittel zukommen zu lassen?”
,,Ihr seid also Alchemisten?” brachte ich endlich doch hervor. „Und weiß jene Dynastie im Exil davon, dass hier bereits ihre künftige Weltmacht vorbereitet wird? Und ist euch, die ihr in den Sternen zu lesen versteht, der Tag der Geburt des Friedensfürsten bekannt?”
„Ich will deine letzte Frage zuerst beantworten: das Geburtsdatum ist der 7. Mai 1986. Jetzt schon eine Verbindung mit jener Herrscherfamilie zu suchen, wäre daher verfrüht. Und was unsere Alchemie anbelangt, darüber, magst du aus eigener Anschauung urteilen!”
Das chemische Laboratorium von Bit Nur bestand, wie schon gesagt, aus mehreren Räumen, von denen ich bei meinem ersten Aufenthalt in Nuristan nur zwei zu sehen bekommen hatte, die nicht anders eingerichtet und ausgestattet waren, als irgendein modernes Institut dieser Art. Die übrigen waren mir damals verschlossen geblieben. Als ich mich jetzt, auf Arya Manas’ Einladung hin, beeilte, ihm zu folgen, wunderte ich mich zunächst, dass er an der Eingangstür, durch welche wir damals eingetreten waren, vorüberschritt. Er gab mir aber sogleich selbst die Erklärung: „Das Laboratorium hat im ganzen fünf Räume”, sagte er, „von denen du zwei bereits kennst. In dem dritten wird unser Stein der Weisen hergestellt, der vierte ist eine Art Kapelle, in welcher er aufbewahrt wird, im fünften versammeln sich die Chakimim, wenn sie zur Zeremonie des Inkiläb zusammenberufen werden.”
„Ihr versteht also die Kunst, den Stein der Weisen zu bereiten?”
„Jawohl, obzwar unser Stein der Weisen nicht ganz derselbe ist, wie der der mittelalterlichen Alchemisten. Jener war ein sprödes, gelbliches Mineral, das, auf geschmolzenes Metall geworfen, sich auflöste und indem es von dem Metall absorbiert wurde, dessen Umwandlung hervorrief. Der unsrige hingegen ist ein glasheller Kristall, der eigenes Licht ausstrahlt und durch diese Ausstrahlung jedes in seiner Nähe befindliche Metall in das entsprechende der nächsthöheren Gruppe verwandelt, also z.B. Kupfer in Silber, Silber in Gold.“
„Und wenn man nun Kupfer in Gold verwandeln will?”
„Dann muss der Prozess wiederholt werden.”
Wir hatten während dieses Gespräches vor der nächsten Tür haltgemacht, die Arya Manas nun aufschloss. Den Raum, den wir betraten, war etwa zehn Meter lang und fünf Meter breit. Sein Licht empfing er durch ein Fenster in der rechten Längswand, das mit hölzernen Läden versehen war. Die dem Eingang gegenüberliegende Schmalseite hatte gleichfalls eine Tür, welche aber zurzeit geschlossen war. Diese musste also wohl in die sogenannte „Kapelle” führen. Der Fußboden war mit dicken Strohmatten bedeckt, Wände und Decke einfach geweißt. Links neben jener anderen Türe stand eine große Truhe, auf deren Deckel, sorgfältig nebeneinander geordnet, etwa ein Dutzend dunkle Augengläser, Brillen mit massiver Goldfassung, lagen. Ein Umstand war mir bereits aufgefallen: im ganzen Gebäude bestanden die Türklinken aus Kupfer, auch die an der Türe dieses Gemaches von außen; die innere hingegen war anscheinend aus Gold. Als ich nochmals hinzutrat, um mich dessen zu vergewissern, gab mir Arya Manas sogleich Bescheid: „Auch diese Klinke war ursprünglich aus Kupfer, ebenso wie die Einfassungen der Brillen dort auf der Truhe. Sie sind erst dadurch, dass sie der Strahlung unseres Kristalls ausgesetzt waren, in Gold verwandelt worden. Von den Brillen werden wir nachher Gebrauch machen müssen, vorläufig haben wir sie noch nicht nötig. Und nun komm weiter!”
Mit diesen Worten öffnete er die Tür zur „Kapelle”.
Dieser Raum war genau halb so groß wie der Vorraum und vollkommen quadratisch. Er hatte jedoch kein Fenster, sondern nur eine zweite Tür zur Linken. Das Licht, welches aus dem Vorraum hinein drang, genügte jedoch vollkommen, um zu erkennen, wie es darin aussah. Auch hier waren Wände und Decke weißgetüncht und der Fußboden mit einer großen Strohmatte bedeckt. Inmitten derselben stand ein kleines, achteckiges Tischchen und im Kreise rings um dasselbe, sieben andere, ähnliche. Letztere waren leer; aber auf dem Mitteltischchen lag eine runde Platte aus Alabaster, über welche eine Glocke aus demselben Stoffe gestürzt war, die einen Durchmesser von etwa dreißig Zentimetern hatte.
„Das nächste Gemach”, sagte Arya Manas, „ist unsere eigentliche alchemistische Werkstatt, die direkt an das chemische Laboratorium anschließt. Dort drin werden wir uns ein andermal umsehen. Für heute habe ich nur vor, dir die Wirkung des Billur, so heißt der Kristall in unserer Sprache, vor Augen zu führen.”
„Das wird mich außerordentlich interessieren”, versicherte ich ihm.
„So gedulde dich nur noch einen Augenblick. Ich werde sofort die Chakimim zum Inkilab zusammenberufen.”
Mit diesen Worten trat er an die Seitentür, um dreimal in ganz bestimmtem Rhythmus anzuklopfen. Von dort, d.h. also vom Laboratorium aus, musste dieses Zeichen offenbar auf irgendeine Weise durchs ganze Haus weitergegeben worden sein, denn ehe eine Minute verging, hörte man verschiedene Türen öffnen und wieder zuschlagen und bald darauf erschienen die ersten Chakimim im Vorraume. Da sie mich alle bereits kannten, so waren sie über meine Anwesenheit nicht weiter erstaunt. Es waren ihrer im Ganzen sieben, die sich zu der „Zeremonie” einfanden, und nachdem die gegenseitige Begrüßung erledigt war, beeilte sich jeder von ihnen, eine der Brillen aufzusetzen. Auch Arya Manas folgte ihrem Beispiele und ermahnte mich, dasselbe zu tun. Die Schwärzung der Brillengläser erwies sich als so stark, dass Minuten vergingen, bevor sich meine Augen so weit daran gewöhnt hatten, dass ich gerade noch meine eigene Nasenspitze und die Hand vor den Augen zu sehen vermochte. Es war, als ob ich mich in einem stark verdunkelten Zimmer befände. Unterdessen hatte Arya Manas die Zwischentür zwischen der „Kapelle” und dem Vorraum angelweit geöffnet und einer der Chakimim den Deckel der neben dieser Tür stehenden Truhe abgehoben.
Meine Brille noch für einen Augenblick hochrückend, um besser zu sehen, stellte ich fest, dass die Truhe bis obenan mit blanken, blinkenden Kupfer- und Silberbarren gefüllt war. Die Chakinum traten nun, ohne dass es dazu einer besonderen Weisung von Arya Manas bedurft hätte, alle herzu und jeder von ihnen hob einen solchen Barren heraus. Mit diesen schritten sie hierauf, einer hinter dem anderen, wie in Prozession, in die Kapelle, wo sie sie feierlich auf die um das Mitteltischchen mit der Alabasterglocke herumstehenden sieben leeren Tischchen niederlegten. Dann kehrten sie in den Vorraum zurück und nahmen längs der dem Fenster gegenüberliegenden Wand Aufstellung.
Jetzt schloss Arya Manas eigenhändig den Fensterladen, so dass wir uns plötzlich in tiefster Dunkelheit befanden. Alles dies geschah schweigend. Schweigend auch fasste mich Arya Manas bei der Hand und führte mich mit sich in die Kapelle, nach deren hinterster Ecke. Gleich darauf fühlte ich seine tastende Hand auf meinem Gesichte. Er überzeugte sich, ob meine Brille richtig saß. Dann verließ er mich.
Etwa eine Minute lang herrschte lautlose Stille in den beiden Räumen, und mir ahnte, dass jetzt der große Augenblick gekommen sei. Und so war es.
„Bischum Adunna, im Namen unseres Herrn!” erscholl plötzlich Arya Manas Stimme von der Mitte der Kapelle her und gleichzeitig hob er die Alabasterglocke von dem Mitteltischchen. Was nun erfolgte, hätte mir beinahe einen unwillkürlichen Ausruf der Überraschung entlockt. Ein intensives Licht erfüllte plötzlich den ganzen Raum, ein Licht, so rein und schneeweiß, wie es die künstlichsten unserer präparierten Kohlenstifte in den elektrischen Bogenlampen nicht hervorzubringen vermögen, und außerdem unendlich stärker. Ja, so stark war dasselbe, dass ich, wenn ich meiner Sache nicht vollkommen sicher gewesen wäre, nimmer geglaubt hätte, eine schwarze Brille aufzuhaben. Es war, wie wenn dieses Licht die Schwärzung des Glases völlig paralysiere, so dass ich damit nun sehen konnte, als ob es farblos durchsichtig gewesen wäre. Ich muss jedoch ausdrücklich bemerken, dass es trotz seiner Intensität nicht blendete. Und das war wohl gerade der Schutzbrille zu verdanken. Ohne dieselbe wäre es dem Auge gewiss unerträglich gewesen.
Und wovon ging dieses wunderbare Licht aus? Von einem etwa faustgroßen Kristallkörper, der inmitten der runden Alabasterplatte auf dem Mitteltischchen lag und wie ich nach längerem Hinsehen feststellen konnte, die Gestalt eines regelmäßigen Ikositetraeder hatte.
Aber horch! Was war das nun?
Die Chakimim im Vorzimmer hatten ihre Stimmen erhoben und ein monotoner Gesang drang an mein Ohr, von dem ich, aufmerksam hinhörend, jedes Wort verstand. Es war eine Art Hymne, in der mir alsbald gewisse Ausdrücke und Wendungen auffielen, die mich an den Text der Tabula Smaragdina von Hermes Trismegistos erinnerten, dessen ursprüngliche Fassung sie, wie ich nachträglich erfuhr, darstellte. Sie wurde in chaldäischer Sprache abgesungen, ich will sie jedoch hier gleich in deutscher Übersetzung wiedergeben:
Lob und Preis sei unserm Herrn, der Himmel und Erde durch ein Wort geschaffen!
Und er schuf das Obere gleich dem Unteren und das Untere gleich dem Oberen.
Sein Vater ist die Sonne, seine Mutter der Mond und sein Windhauch weht befruchtend über die Erde.
Und die Geschöpfe unten mischen ihre Kräfte mit denen oben und sie zeugen ein wunderbares Wesen.
Vier Elemente birgt es in sich. In seiner Erde ist unser Herr. In seinem Wasser ist unser Herr. In seiner Luft ist unser Herr. In seinem Feuer ist unser Herr.
Erde, Wasser, Luft und Feuer achten auf seinen Willen und gehorchen dem Gebot unseres Herrn.
Also ist die Welt geschaffen und der Name unseres Herrn ist der Schlüssel zu ihren Geheimnissen.
Diese sieben Verse wurden dreimal wiederholt, dann verstummte der Gesang. Arya Manas, der an meine Seite getreten war und während der ganzen Zeit regungslos neben mir gestanden hatte, schritt nun wieder auf das Mitteltischchen zu, um die Alabasterglocke, die er vorhin neben demselben auf die Erde gesetzt, über den Kristall zu decken. Augenblicklich verschwand das weiße Licht, aber als ich nun meine Brille abnahm, stellte ich fest, dass es trotzdem nicht wieder ganz finster um uns her geworden war, denn die sieben Metallbarren auf den Tischchen im Kreise umher fluoreszierten, die einen mit lebhaft bläulichem, die andern mit grünlichem Schimmer. Indes dauerte diese Erscheinung nur wenige Sekunden.
Jetzt wurde auch nebenan der Fensterladen wieder geöffnet und die Chakimim kamen herein, um die Barren zu holen. Als ich letztere draußen beim Tageslicht untersuchte, musste auch der Rest meines Zweifels schwinden. Ich hielt pures Silber und Gold in den Händen.
Nachher gab mir Arya Manas ausführlichere Erklärungen zu dem ganzen Vorgang des Inkilab und über Wesen und Herstellung des Billur. Erklärungen, die ich jedoch hier, da sie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit gemacht wurden, nicht in ihrem ganzen Umfange der Öffentlichkeit preisgeben darf. Nur einiges sei hier andeutungsweise mitgeteilt. Jedenfalls verschafften sie mir die Überzeugung, dass auch unsere heutige Chemie noch ziemlich weit von der Lösung ihrer letzten Aufgabe, die Einzelheiten der Struktur der Materie, das gegenseitige Verhältnis jener „Elemente”, die keine sind, und ihr periodisches System betreffend, entfernt ist. Wie gesagt, in Einzelheiten; denn im Großen und Ganzen sind die im vorigen Kapitel wiedergegebenen, Anschauungen richtig.
Vor allem ist es eben dieses periodische System, welches, nach der neuesten Aufstellung von A. Werner und P. Pfeifer, die der Wahrheit am nächsten kommt, immerhin noch zahlreiche Lücken aufweist und noch manche Umstellung nötig machen wird. Arya Manas hatte mir, wie man sich erinnern wird, gesagt, dass der Billur jedesmal die Verwandlung eines Metalls in das entsprechende der nächsthöheren Gruppe bewirke, also Kupfer in Silber, Silber in Gold verwandle und wenn man die nachstehende Tabelle zum Vergleich heranzieht, so wird man finden, dass es stimmt. Aber wie verhält es sich z. B. mit Eisen, Platin, Quecksilber, Blei? Hier ist die richtige Anordnung entschieden noch nicht gefunden.
In der früheren Tabelle (von 1903) nicht enthaltene Abkürzungen: Pr=Praseodym, Nd=Neodym, Sm=Samanum, EU=Europium, Gd=Gadolinium, Tb=Terbium, Dy=Dysprosium, Ho=Holmium, Er=Erbium, Tu=Tullium, Lu=Lutetium, Po=Polonium, Em=Emmanation, Ra=Radium, Ac=Aktinium, Pa=Protaktinium
Ferner verriet mir Arya Manas, der über alle Ergebnisse der modernen Forschung unterrichtet war, dass die sogenannten ,,Ordnungszahlen” (vorläufig 1 bis 92), welche angeblich der positiven Kernladung des Atoms und der Zahl seiner negativen Elektronen entsprechen sollen, in Wirklichkeit damit nichts zu tun haben, sondern das Atomgewicht. Die Ordnungszahlen sind einstweilen noch als ganz willkürlich anzusehen und werden nach Entdeckung weiterer Zwischenelemente (die keine Isotopen sind!) noch wiederholt geändert werden müssen.
Was endlich Wesen und Herstellung des Billur anbelangt, so erklärte er mir, dass es sich hier um den ursprünglichen Stein der Weisen handle, wie ihn Hermes Trismegistos kannte, und der sich von dem mittelalterlichen nicht dem Stoffe nach, sondern durch die Kristallisation unterscheide. Auch auf diesem letzteren Gebiete sei die Wissenschaft noch sehr rückständig, der Kristall stelle das Individuum im Mineralreiche vor und falle daher gleichfalls unter ein Entwicklungsgesetz. Das sei aber nicht so zu verstehen, als ob jedem Mineral nur eine bestimmte Kristallform zukommen und diese verschiedenen Kristallformen dann eine Stufenleiter bilden würden; nein, auch dasselbe Mineral kann sich, je nach den Bedingungen, unter denen die Kristallisation vor sich geht, zu Kristallformen verschiedener Höhe entwickeln oder künstlich entwickelt werden. Ich lernte auch eine Art chemischer Formel für den Billur kennen, eine Formel, die zugleich Zusammensetzung und Kristallform angibt, die ich aber leider hier nicht veröffentlichen darf. Und als ich das künstliche Silber und Gold chemisch untersuchte (das Laboratorium des Bit Nur besitzt alle hierzu nötigen Apparate), da konnte ich zu meiner Überraschung konstatieren, dass das Atomgewicht dieses Silbers nicht 107.88, sondern 108, und das dieses Goldes nicht 197.2, sondern 196 betrug woraus zu folgen scheint, dass beide gleichfalls als „Mischelemente” anzusehen sind. Zweifellos gibt es aber noch viel mehr solche „Mischelemente”, ja wir werden keinen Fehlschluss tun, wenn wir sagen, dass alle in der Natur vorkommenden Elemente in Wirklichkeit Isotopengemische aus sieben Mischungsbestandteilen sind … Und hiermit schließe ich.
Worauf es in dieser Broschüre ankam, das glaube ich überzeugend genug dargetan zu haben. Wenn wir uns heute umsehen, so finden wir, dass von den okkulten Wissenscharten die längst totgeglaubte Astrologie die erste war, welche eine erfreuliche Auferstehung gefeiert hat. Heute glaubt schon fast jeder wieder an den Einfluss der Gestirne auf das menschliche Leben, der Büchermarkt ist mit astrologischen Neuerscheinungen überschwemmt, der Annoncenteil der Tagesblätter wimmelt von Anzeigen astrologischer Büros und in den großen Städten kann man sich bereits im Kaffeehaus und an jeder Straßenecke von mehr oder minder berufenen Astrologen sein Horoskop stellen lassen.
Und nun wird zweifellos die Alchemie dem Beispiel der Astrologie folgen. Die Hindernisse, die ihrer Wiedererweckung im Wege standen, sind restlos hinweggeräumt und die Bahn ist wieder freigegeben, auf der nun bald auch in Europa Gelehrte und Laien wetteifernd nach dem Ziele streben werden, das die Eingeweihten des Morgenlandes längst erreicht haben, dessen Geheimnis sie aber einstweilen noch strenge hüten müssen: Den Stein der Weisen!